Der US-amerikanische Anthropologe Paul Wolff Mitchell forscht mit moderner 3D-Scantechnik über die Blumenbachsche Schädelsammlung. Dafür besucht er die Göttinger Sammlung und unser Autor Christian Vogel, Referent für Wissensforschung der Zentralen Kustodie, schaute ihm bei der Digitalisierung der Schädel über die Schulter.
Blumenbachs Forschung und seine Schädelsammlung
Die von Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) begründete Schädelsammlung, die sich heute am Zentrum Anatomie der Universität in Göttingen befindet und ca. 840 Objekte umfasst, diente dem Göttinger Anatom, Mediziner und Naturforscher als wichtigste Materialgrundlage, um seine Einteilung des Menschen in vier, später dann in fünf „Varietäten“ zu erarbeiten. Blumenbach war zwar nicht der erste, der im 18. Jahrhundert versuchte, anhand von körperlichen Merkmalen die Menschen in unterschiedliche Gruppen einzuteilen. Doch seine Unterscheidung in fünf „Varietäten des Menschengeschlechts“ wurde äußerst populär und hatte großen Einfluss auf die weiteren Debatten. Das hatte zum einen damit zu tun, dass Blumenbach entgegen vieler seiner Vorgänger die Unterscheidungskriterien, nach denen er die Menschen einteilen wollte, drastisch reduzierte: Er bestimmte sie hauptsächlich aus der Form des menschlichen Schädels und dem Verhältnis seiner einzelnen Teile zueinander. Zum anderen war die Popularität seines Vorschlages auch den Illustrationen der Schädel zu verdanken, die seiner Meinung nach idealtypisch für jeweils eine menschliche Varietät standen und die er seinen Veröffentlichungen mitgab.
In seiner zum ersten Mal 1776 auf Latein und 1798 in deutscher Übersetzung erschienenen Schrift „[Ü]ber die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte“ finden sich ab der dritten Auflage 1795 fünf Schädel abgebildet, die von einem Göttinger Kupferstecher nach den Originalschädeln und unter Aufsicht Blumenbachs angefertigt wurden. Auch wenn die Klassifikation Blumenbachs nicht automatisch mit einer expliziten Hierarchisierung der einzelnen menschlichen Varietäten verbunden war und wohl auch nicht von ihm beabsichtigt wurde, so spricht das Bildprogramm eine subtilere Sprache. Während der Schädel der „Georgierin“, der den europäischen Typ repräsentierte und nach Blumenbach „die meiste Symmetrie und Schönheit“ aufweise, im Zentrum der Tafel angeordnet ist, sind die anderen vier Typen jeweils links und rechts nach dem Grad ihres Unterschiedes auf der Tafel angeordnet. Damit wird auf visueller Ebene die europäische Mitte standardisiert und universalisiert, während die übrigen Varietäten nur noch als Abweichungen von dieser von Blumenbach als Norm verstandenen Mitte begriffen werden können.
Modernste Technik trifft auf alte Schädel
Sowohl die Blumenbachsche Originalsammlung an Schädeln als auch die Illustrationen dieser Schädel stehen momentan im Zentrum einer Untersuchung, die von dem Anthropologen Paul Wolff Mitchell durchgeführt wird. Der Doktorand am Department of Anthropology der University of Pennsylvania interessiert sich dabei vor allem für das Verhältnis zwischen den Originalobjekten der Sammlung und den Zeichnungen davon. Die von Mitchell erstellten hochauflösenden 3D-Scans der Schädel sollen ihm dabei helfen, die Frage zu beantworten, in welchem Verhältnis die Zeichnungen zu den jeweiligen Originalvorlagen standen. Dass solche Zeichnungen stark von ihrer Vorlage abweichen können, stellte Mitchell bereits in einer ähnlichen Untersuchung an der ab ca. 1830 aufgebauten Schädelsammlung des US-Anthropologen Samuel George Morton (1799-1851) fest. Die Zeichnungen, die Morton von seinen Schädeln anfertigen ließ, wurden ganz gezielt eingesetzt und manipuliert, um seine rassistischen Theorien zu untermauern: Der bei den Illustrationen der Schädel der „weißen Rasse“ gegenüber dem Original zu groß gezeichnete Hirnumfang sollte Mortons These, wonach es ein Kausalverhältnis zwischen Gehirnvolumen und Intelligenz gebe, visuell bestätigen.
Neben dem Vergleich zwischen Original und Zeichnung geht es Mitchell aber auch um die unterschiedlichen Strategien, mit denen die Sammlungen aufgebaut, publiziert und interpretiert wurden. Interessant in diesem Zusammenhang ist bei Blumenbach die Frage, nach welchen Kriterien er jeweils den idealtypischen Schädel für eine menschliche Varietät ausgewählt hat. Denn laut einer Liste, die von Blumenbach selbst erstellt wurde, besaß er 1789, als die dritte Auflage seines Buches erschien, bereits 82 Schädel, aus denen er jeweils einen als stellvertretend für eine menschliche Varietät bestimmte.
Weitere Schädelsammlungen im Blick
Mitchell wird bis September als Gast der Akademie der Wissenschaften und des Zentrums Anatomie der Universität in Göttingen forschen und sowohl vom Kurator der Schädelsammlung, Prof. Dr. Michael Schultz, als auch vom Akademie-Projekt „Johann Friedrich Blumenbach – Online“ unterstützt. Im Anschluss wird er weitere europäische Schädelsammlungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert analysieren: die Sammlung von Pieter Camper (1722-1789) in Groningen, diejenige von Gustaf Retzius (1842-1919) in Stockholm und schließlich die von Joseph Hyrtl (1810-1894) in Philadelphia, deren Archivmaterial in Wien liegt.
Neben dem gerade erschienenen Katalog zur Ausstellung “Lichtenbergs MenschenBilder“, die bis Juni 2018 am Lichtenberg-Kolleg zu sehen war und die sich auch mit Blumenbachs Bildproduktion auseinandergesetzt hat, siehe für weiterführende Literatur zu Blumenbach, seine Sammlung und die Entstehung der Anthropologie auch den am 16. Juli 2018 erscheinenden Aufsatzband, der aus einer Göttinger Tagung vom Mai 2015 hervorgegangen ist: Rupke, Nicolaas; Lauer, Gerhard (Hg.): Johann Friedrich Blumenbach: Race and Natural History, 1750-1850, London/New York 2018.