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Forum Wissen Sammlungsschaufenster

Was uns alte Kinderbücher über das politische Klima ihrer Entstehungszeit verraten

Die Objektspalte der Sammlung historischer Kinder- und Jugendliteratur Sammlungsschaufenster, Foto: Martin Liebetruth

Die Objekte der Göttinger Sammlung historischer Kinder- und Jugendliteratur haben eine steile Karriere hingelegt. Was vor hundert Jahren noch Kindern als Zeitvertreib diente und nur aus ein paar dünnen, bestenfalls bunt bedruckten Seiten besteht, ist heute ein Forschungsobjekt von großem Wert. Bücher sind für Kinder oft der erste Zugang zur Welt außerhalb des eigenen Lebens – entsprechend hat man sie schon immer genutzt, um jungen Menschen Werte, Ideen und Weltbilder zu vermitteln.

Hartmut Hombrecher, Kustos der Sammlung historischer Kinder- und Jugendliteratur, Foto: Eva Völker

„Kinder- und Jugendbücher zeigen uns bis heute nicht nur viel über historisch und regional verschiedene Vorstellungen davon, was Kindheit eigentlich ausmacht“, sagt Dr. Hartmut Hombrecher, Kustos der Sammlung, „in ihnen wird auch besonders deutlich, welche Diskurse eine Gesellschaft für wichtig hält und welche Ideen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden sollen“. Öffentliche Bibliotheken haben dieses kulturhistorische Potenzial lange unterschätzt. Darum stammen auch die meisten Bände der Göttinger Sammlung historischer Kinder- und Jugendliteratur aus privaten Sammlungen, die ab den 1960er Jahren aufgekauft oder als Schenkungen angenommen wurden. Die Göttinger Sammlung wächst noch immer. Heute wird sie nicht nur der Forschung zur Verfügung gestellt, sondern auch regelmäßig in der universitären Lehre genutzt.

Zwei Jugendbücher aus dem Jahr 1938 mit sehr unterschiedlichen Mädchenbildern, Foto: Martin Liebetruth

Mädchenfiguren 1938: Dort Freiheitsdrang…

In der Spalte des Sammlungsschaufensters im Forum Wissen kann man die unterschiedlichen Prägungen der Kinderliteratur besonders deutlich sehen, wenn man die Bücher miteinander vergleicht.

Im Mittelpunkt des ausgestellten Romans Bibi lernt Landwirtschaft (Zürich 1938) steht das Mädchen Bibi. Die Figur wurde 1928 von Karin Michaëlis (1872–1950), einer dänischen Autorin, Journalistin und Feministin, erfunden und tobte sich in den nächsten 10 Jahren in insgesamt sechs Jugendbüchern aus. Seit dem Tod ihrer Mutter, einer Grafentochter, lebt die abenteuerlustige und offenherzige Bibi einträchtig mit ihrem „Paps“ zusammen. Gegen ihn setzt sie aber auch immer wieder ihren eigenwilligen Kopf durch.

Bibi ist Mitglied einer Mädchenbande, die sich „die Verschworenen“ nennt. Gemeinsam schwärmen die fünf Mädchen in Bibi lernt Landwirtschaft für den neuen, jungen Pastor. Eine so offene und ausführliche Thematisierung erster Verliebtheit – zumal zu einem Pastor – war damals die Ausnahme. Die heile Welt währt aber nicht lange: Als eine große Bank pleite geht, verlieren Bibis Großeltern ihren Hof und ihr Betriebskapital, das sie teilweise für die Enkelin in Aktien angelegt hatten. Für Bibi ist das keine Tragödie: Dass sie nun eben einen Beruf erlernen und ausüben wird, wirkt selbstverständlich. Der Roman entwickelt hier deutlich eine republikanische und sozialdemokratisch geprägte Vorstellung von Gesellschaft. 

Frisch konfirmiert kommt Bibi auf einen Bauernhof und macht dabei schöne wie schwierige Erfahrungen. Die Strapazen werden recht realistisch dargestellt; unter anderem muss Bibi mit einem Ausbruch der Maul- und Klauenseuche zurechtkommen. Inspirierend wirkt auf Bibi die Bekanntschaft mit einer Witwe, die sich mit ihren fünf Söhnen weitestgehend selbst versorgt. Die wirtschaftliche und soziale Eigenständigkeit von Frauen wird ebenso präsentiert wie Arbeit zum Wohle der Gemeinschaft. Im Zentrum stehen das Individuum und seine Wünsche, immer eingebettet in die Gesellschaft.

Foto: Eva Völker

… hier Aufopferung für das Vaterland

Deutlich andere Prioritäten setzt die Protagonistin Gundula in Ein Mädel in der Front (Berlin 1938) der Schriftstellerin und Zeichnerin Suse von Hoerner-Heintze (1890–1978). Gundula entspricht einem Frauenideal, das besonders die Fürsorglichkeit und Aufopferungsbereitschaft in den Vordergrund stellt. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, ziehen ihr Vater und ihr Bruder in den Krieg. Gundula selbst scheut keine Mühen, um sich als Krankenschwester ausbilden zu lassen und den Verwundeten zu helfen. Außerdem pflegt sie ihren verletzten Vater mit größter Hingabe.

Was Gundula und Bibi gemeinsam haben, ist die Bereitschaft zum Arbeiten außerhalb des häuslichen Umfelds. Gundula beginnt ihre Ausbildung zwar wegen des Krieges, betont aber immer wieder, dass sie schon immer Krankenschwester werden wollte. Das ist kein Zufall, sondern passt gut in Geschlechterrollen, die für Frauen an erster Stelle Care-Tätigkeiten vorsehen.

Auch Gundula setzt ihren Willen manchmal durch, aber bleibt insgesamt Vater und Mutter hörig. Ein Jahr vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges präsentiert Hoerner-Heintze in ihrem Mädchenbuch das idealisierte Vorbild einer zurückhaltenden jungen Frau, die sich den vorgegebenen Werten nicht nur unterordnet, sondern sie geradezu verkörpert. Entsprechend wenig individuell ist die Figur angelegt. Damit wird den jungen Leserinnen vorgeführt, wie sie sich im Sinne der nationalsozialistischen Idee einer ‚Volksgemeinschaft‘ zu verhalten haben.

Entsprechende Ideen wurden in der Kinder- und Jugendliteratur auch nach 1945 weiter vermittelt. Während Ein Mädel in der Front keine Neuauflage in der Bundesrepublik erhielt, sind zahlreiche andere Texte in leicht bereinigter Fassung teils bis in die Gegenwart auf dem deutschen Buchmarkt geblieben.

Progressive Kinderbücher aus unterschiedlichen Jahrzehnten, Foto: Martin Liebetruth

Hier gibt es mehr zu entdecken…

Die Sammlung historischer Kinder- und Jugendliteratur Göttingen gehört mit etwa 35.000 Objekten zu den größten im deutschsprachigen Raum. Die Bücher, Papierspiele und weiteren Medien stammen aus dem Zeitraum vom frühen 18. bis zum späten 20. Jahrhundert. Schwerpunkte der Sammlung sind die Kinder- und Jugendliteratur der Weimarer Republik, der NS-Zeit, Bilderbücher und Märchenbücher. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen, die Bestände während der Öffnungszeiten vor Ort zu nutzen.

Ein Beitrag von Antonia Roedszus, Jaqueline Stephan und Hartmut Hombrecher

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Ausstellung Engagement Forum Wissen Hinter den Kulissen

Rückschau Malwettbewerb und Spendenkampagne „Walheimat“

Das Projekt Walheimat Göttingen

Als einer der Publikums-Lieblinge aus dem ehemaligen Zoologischen Museum ist das Skelett des 17 Meter langen ‚Göttinger‘ Pottwals nach einer umfassenden Restaurierung seit Anfang März wieder zurück an seinem früheren Platz. Das Skelett wurde lange auf seine Rückkehr vorbereitet, indem die 123 Einzelknochen und der 500 Kilogramm schwere Schädel von Präparator Carsten Wortmann gereinigt und mit Hilfe eines Stahlkonstrukts naturgetreu und sicher montiert wurden.

Ein Malwettbewerb für alle

Zur Finanzierung der aufwändigen Hängung des Pottwalskeletts im Atrium des Forum Wissen haben die Universität Göttingen, der Förderkreis Forum Wissen e.V. und der Alumni Göttingen e.V. einen Malwettbewerb ausgelobt. Unter dem Motto „Walheimat Göttingen“ gingen zwischen November 2022 und März 2023 ganze 532 Bilder ein. Die jüngste Teilnehmerin war zwei, die älteste 71 Jahre alt. Sogar aus Schweden und Spanien haben uns Bilder erreicht.

In einer eigenen Ausstellung wurden die Bilder im Forum Wissen zwischen März und April 2023 gezeigt und fanden reges Interesse bei den großen und kleinen Besuchern. Eine unabhängige Jury wählte aus den vielen Bild-Beiträgen je nach Altersstufe aus vier Kategorien jeweils vier Gewinner aus. Diese 16 Gewinner konnten ihre Preise im Rahmen der feierlichen Eröffnung des Walskeletts am 19.03.2023 im Atrium des Forum Wissen entgegennehmen.

Die Auktion der anderen Art

Den Großteil der Bilder haben die Teilnehmenden zudem für eine stille Spenden-Auktion freigegeben. 150 Personen nahmen mit einer individuellen Spende daran teil, was ein Spendenergebnis von 6.650 Euro erbrachte. Es konnte sowohl online als auch analog per Wahl-Urne auf die zur Auktion freigegebenen Bilder geboten werden. Zum Ende der Spenden-Auktion am 14.04.2023 um 23:59 Uhr gab es wahre Kopf-an-Kopf-Rennen unter den Bietern, was das Geschehen aufregend und dynamisch machte. Auch fortlaufend sind Spenden zugunsten der Hängung des Walskeletts auf der Homepage des Alumni Vereins möglich.

Der Höchstbietende (der anonym bleiben möchte) verrät uns, dass er den Hype um den Göttinger Wal zunächst eher lustig fand, sich dann in der Ausstellung aber in sein Favoriten-Bild „verguckt“ hat und zum Ende der Spenden-Auktion in einen wahren Auktions-Rausch gekommen ist, um mit Timer und unter Spannung bis um 23:59 Uhr mitzuspenden.

Malwettbewerb „Walheimat Göttingen“, Bild Nr. 20 von Annika Becker (24)

Das höchstgebotene Bild

Auch die Wettbewerbs-Teilnehmende Annika Becker (24 Jahre), deren Bild-Spende den höchsten Betrag von 240 Euro erbracht hat, ist begeistert von der Möglichkeit, sich persönlich für die Hängung des Walskeletts zu engagieren. Sie hat aus den Uni-News vom Malwettbewerb erfahren und einen ganzen Monat an ihrem Kunstwerk gearbeitet. Zuletzt musste sie sich sogar etwas Mut ansammeln, um mit einer neuartigen Technik per Airbrush die Wolken auf die Leinwand zu sprühen. Ihr Herzenswunsch ist, dass das Pottwalskelett im Forum Wissen die Besucher auch daran erinnert, einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Meer und seinen Lebewesen zu ermöglichen.

Wir bedanken uns bei allen, die uns mit Bildern, Spenden und motivierenden Worten in dieser Walkampagne unterstützt haben! Und wer mehr über den Wal und seinen Einzug ins Forum Wissen erfahren möchte, kann sich dazu auch unsere Videos anschauen.

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Forum Wissen Sammlung Sammlungsschaufenster

Archäologie und Naturwissenschaften

Im Sammlungsschaufenster der Ur- und Frühgeschichte findet ihr eine Vielzahl von interessanten und anschaulichen Objekten. Diese geben euch einen Einblick in das Leben und die Kultur der zurückliegenden ca. 7.500 Jahre. Besonders aufschlussreich sind dabei die Tierzähne. Sie zeigen euch, welche Haustiere bereits in einer frühen Phase der Seßhaftwerdung gehalten wurden. „Daneben stehen Tierfiguren, um gerade auch Kindern im Vorschulalter zu veranschaulichen, welche Tiere in der damaligen Zeit von Menschen gehalten wurden“, erklärt Dr. Immo Heske, der Kustos der Lehrsammlung für Ur- und Frühgeschichte.

Zähne eines Hausschweins aus dem Kreis Helmstedt, Bronzezeit und Eisenzeit. Foto: Martin Liebetruth

Zugleich könnt ihr sehen, welche Tiere auf dem urgeschichtlichen Bauernhof zu Beginn noch fehlen. Die Tierzähne sind auch ein Verweis auf die Naturwissenschaften, die eng mit der Archäologie verbunden sind. Denn ohne archäozoologische Bestimmungen können Wissenschaftler*innen die Tierarten nicht unterscheiden. Anhand der Tierzähne können sie feststellen, wie alt die Tiere zum Zeitpunkt ihres Todes waren und ob sie im laufe ihres Leben gereist sind.

Metallanalysen und Handel

Ein weiteres Highlight der Ausstellung sind Objekte aus der Bronzezeit: Ösenhalsringe und Spangenbarren, stehen für eine frühe Phase des Handels. Denn mit diesen Ringen und Barren haben die Menschen damals ihre Waren bezahlt. Auch das Metall selbst lässt weitere Auskünfte zu.  Die Zusammensetzung der Metall-Legierungen können Spezialist*innen bestimmen. Manchmal gelingt es sogar, die Herkunftsregion einzelner Bestandteile aufzuschlüsseln. Die Wissenschaftler*innen des Instituts für Ur- und Frühgeschichte haben sich in den zurückliegenden Jahren stark auf die Bronzezeit konzentriert. Diese zeigt uns, wie wichtig der überregionale Warentransfer für die Versorgung der Menschen mit Rohstoffen war. Durch Handel und Austausch von Rohstoffen kamen die Menschen in Kontakt mit anderen Kulturen und konnten von deren Kenntnissen sowie Fertigkeiten profitieren. Die Objekte in der Ausstellung zeigen uns eindrucksvoll, wie international die Kontakte der europäischen Menschen bereits zu dieser Zeit waren.

Ösenhalsringe, Bronzesichel und Spangenbarren aus der frühen und jungen Bronzezeit. Foto: Lena Heykes

Anthropologie und Bestattungen

Besonders spannend sind auch die Ausstellungsstücke zum Thema Bestattungssitten. Die Leichenbrände zeigen uns, wie die Menschen der Vergangenheit mit dem Tod umgegangen sind und welche Bestattungsformen sie gewählt haben. Hier ist die Anthropologie eine große Unterstützung, um Details über Geschlecht, Alter und vieles mehr herauszufinden – zum Beispiel über Arbeitsbelastung und gewalttätige Konflikte. Die Bestattungsmethoden änderten sich im Laufe der Zeit deutlich, besonders ab der Bronzezeit und europaweit ab dem 11. Jahrhundert v. Chr. Die Vielfalt der Bestattungsmethoden und -rituale zeigt, wie unterschiedlich die Menschen damals das irdische Leben im Jenseits weiter dachten. Heute kann jeder selbst entscheiden, ob er eine Brandbestattung in einer Urne oder eine Körperbestattung in einem Sarg bevorzugt.

Urne mit Leichenbrand aus der Eisenzeit. Foto: Uni Göttingen

„Es ist erstaunlich, dass die Bestattungen in Niedersachsen bis zur Einführung des Christentums fast ausschließlich bei Brandbestattungen blieben.“, meint Immo Heske. Die Hausurnen, die ganz oben in der Ausstellung stehen, zeigen uns auch, dass einige Gefäße ausschließlich für die Bestattung angefertigt wurden. Für normale Urnen verwendeten die Menschen damals oft einfache Gefäße aus dem Haushalt. Diese Urnen gab es häufig. Hausurnen finden Archäolog*innen hingegen seltenen. Sie lassen sich aber inselartig europaweit nachweisen. Ein Hinweis auf vielfältige Einflüsse und Kontakte zwischen dem heutigen Dänemark, Polen, Italien und dem Nordharzgebiet in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt.

Die Ausstellung der Ur- und Frühgeschichte im Sammlungsschaufenster endet mit den Hausurnen. Diese werden an das Ende der Bronzezeit und den Übergang der Eisenzeit datiert. Die Eisenzeit in Niedersachsen ist ansonsten überwiegend mit wenig aussagekräftigen Urnen belegt.

Hausurne der frühen vorrömische Eisenzeit 8./7. Jh. v. Chr. Foto: Lena Heykes

Noch mehr zu entdecken

Insgesamt liefert das Sammlungsschaufenster der Ur- und Frühgeschichte einen faszinierenden Einblick in das Leben und in die Kultur der frühen Menschheit. Die Objekte zeigen uns, wie sich die menschlichen Gesellschaften und Glaubensvorstellungen im Laufe der Zeit entwickelt und verändert haben – aber auch, wie der Mensch überregional oder lokal lebte. Archäolog*innen erforschen die Regionen und Landschaften, in denen wir heute leben auf ihre Geschichte.

Das Mittelalter spielt im Sammlungsschaufenster zwar keine Rolle, dafür ist es in der Dauerausstellung „Räume des Wissens“ präsent, mit Objekten des Weltkulturerbes Haithabu.

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Forum Wissen Sammlungsschaufenster

Gemmen, Gipsabgüsse und Göttingen

Im Archäologischen Institut Göttingen befindet sich die 1765 gegründete Sammlung der Gipsabgüsse. Diese Sammlung gibt einen Überblick über die mehr als 1000-jährige Geschichte der griechisch-römischen Bildhauerkunst. Sie enthält nicht nur Abgüsse großformatiger Statuen, sondern auch winziger Gemmen.

Was sind Gemmen?

Gemmen sind geschnittene Schmucksteine, die aus verhältnismäßig weichen Steinen geschnitten wurden. Die verwendeten Steinsorten waren dabei Tigerauge, Bergkristall, Rosenquarz, Amethyst, Granat, Roter und Gelber Japsis, Karneol, Sarder, Achate, Chalzedon und Chrysopras. Mit viel Erfindungsgeist entwickelten die Gemmenschneider ab dem 5. bis 6. Jahrtausend vor Christi Techniken, um die relativ weichen Steine mit freier Hand zu bearbeiten. Dabei wurde das Bildmotiv von den Steinschneidern als Vertiefung eingeschnitten.

Mit den Abgüssen, die in der Antike angefertigt wurden, konnten damals Briefe und Dokumente wie Urkunden als Siegel beglaubigt werden. Aber auch Waren, Kästchen, Gefäße und Türen wurden so verschlossen. Ob aus Ton oder Wachs – das Öffnen hätte die Siegel beschädigt und verraten, dass sich jemand Zugriff verschaffen wollte!

Die Abbildung zeigt Abdrücke von Gemmen im Sammlungsschaufenster des Forum Wissen
Die Abgüsse der Gemmen aus dem Archäologischen Institut Göttingen im Sammlungsschaufenster des Forum Wissen. Foto: Eva Völker

Wofür wurden Gemmen angefertigt?

Neben Münzen waren Gemmen in der Antike die kleinsten Kunstwerke, die hergestellt wurden. Bis auf Gemmen aus Glas konnten sie nicht vervielfältigt werden und waren deshalb immer ein Unikat. Gemmen wurden zum Beispiel als Schmuckstücke, Ehrengeschenke, Glücksbringer oder Amulette angefertigt. Dabei wurden ihnen magische Kräfte zugeschrieben und Verstorbenen mit ins Grab gegeben oder auch vererbt. Es gab nicht nur einfach geschnittene Gemmen, sondern auch richtige Meisterwerke!

Die Abgüsse der Gemmen

Im 18. Jahrhundert wurden umfangreiche Sammlungen von Gemmen erstellt. Sie galten als zentrale Quelle für die Kenntnis der antiken Kunst. Die Abgüsse solcher antiker Siegelsteine in Gips, Schwefel, Siegelwachs oder Siegellack sowie Sammlungen von ihnen wurden hauptsächlich im 18. Jahrhundert angelegt. Der größte Teil der Vorlagen für die Abgüsse stammt aus der Zeit etwa vom 6. Jahrhundert vor bis zum 6. Jahrhundert nach Christus. Die detaillierten Miniaturbilder der Abgüsse sind für uns ein spannendes Zeugnis der Antike!

Die Abbildung zeigt Gipsabgüsse von Gemmen im Detail aus dem Sammlungsschaufenster im Forum Wissen.
In Nahaufnahme: Antike Bildmotive. Foto: Eva Völker

Bei vertieft in die Gemmen eingeschnittenen Bildern hatten Abgüsse den Vorteil, dass dank des positiven Reliefs Details oft noch besser als im Original herausgelesen werden konnten. Sammlungen solcher Abgüsse nennt man Daktyliotheken. Viele davon sind uns gut erhalten, da sie üblicherweise in geschlossenen Kästen aufbewahrt wurden und somit meist unversehrt geblieben sind. Für diese Art der Sammlungen wurden die Abgüsse mithilfe von vergoldeten Papierrähmchen systematisch auf einer Trägerplatte angeordnet beziehungsweise in eine Schublade fest montiert.

Abgüsse von Gemmen aus der Archäologischen Originalsammlung

Das Göttinger Archäologische Institut verfügt nicht nur über eine große Zahl von Daktyliotheken sowie einzelnen Gemmenabgüssen, sondern auch über mehr als 600 originale Gemmen aus hauptsächlich römischer Zeit. Johann Friedrich Crome (1906-1962) fertigte 1931 das erste systematische wissenschaftliche Inventar dieser originalen Gemmen im Besitz des Göttinger Archäologischen Instituts an und publizierte einen Teil davon in einem Aufsatz. Crome, der damals noch keine 25 Jahre alt war, hatte allerdings wenig Erfahrung mit antiken Gemmen. Er zog daher Paul Arndt als Experten zu Hilfe, den zu der Zeit besten Kenner antiker Steinschneidekunst in München. Arndt erhielt das gesamte Originalmaterial, formte innerhalb einiger Monate alle 106 Stück ab und montierte sie auf vier Tafeln aus festem Karton. Diese Abgüsse wurden in mindestens zwei Sätzen hergestellt und: Sie sind noch heute am Göttinger Institut erhalten.

Die Abbildung zeigt Gipsabdrücke von Gemmen aus dem Sammlungsschaufenster im Forum Wissen.
Die Abgüsse der Gemmen aus dem Archäologischen Institut Göttingen auf Karton montiert. Foto: Eva Völker

Die Gipsabgüsse von Gemmen

Die Nummerierungen auf dem Karton verraten uns vermutlich, dass es sich hierbei um ein Arbeitsexemplar handelt, welches dann als Fotografievorlage für die Publikation diente. Dafür wurden die endgültigen Tafeln wahrscheinlich in höchster Präzision als Ganzes fotografiert und der freie Raum zwischen den Abgüssen dann einschließlich der Goldrähmchen wegretuschiert. Da die Abgüsse auf den endgültigen Tafeln nicht nummeriert sind, können sie nur in Verbindung mit den Abbildungen in Cromes Publikation benutzt werden.

Der Kasten als solcher präsentiert uns ähnlich wie traditionelle Daktyliotheken damals die Gemmenabgüsse ein Stück der europäischen Kunstgeschichte. Im Sammlungsschaufenster des Forum Wissen werden die Gemmenabgüsse in den Glasvitrinen gezeigt und die spannenden Details sind mit bloßem Auge zu betrachten!

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Forum Wissen Sammlung Sammlungsschaufenster

Das ganze Leben ist Chemie!

Die Sammlung der Göttinger Chemie präsentiert ein besonders modernes Exponat bei uns im Sammlungsschaufenster: einen sogenannten Bioreaktor. Für ein Objekt im Museum der Göttinger Chemie ist dieses Exponat ziemlich jung; das Göttinger Unternehmen Sartorius hat es 2019 hergestellt und viele Labore nutzen es derzeit weltweit. “Der Bioreaktor ist eine Spende von Sartorius und er ist fabrikneu”, erklärt Dr. Ulrich Schmitt, der Kustos des Museums an der Fakultät für Chemie.

Ulrich Schmitt stellt den Bioreaktor ins Sammlungsschaufenster des Forum Wissen. Foto: Martin Liebetruth

Seine Sammlung ist facettenreich und enthält neben überwiegend historischen Exponaten nur wenige aktuelle Objekte aus der chemischen Forschung. Konventionell werden für viele chemische Arbeiten im Laboratorium vor allem Geräte und Apparaturen aus Glas verwendet. Deshalb präsentiert der Kustos auch in der oberen Vitrine des Sammlungsschaufensters eine Auswahl typischer Glasgeräte für chemische Laborpraktika (zahlreiche weitere Gerätschaften könnt ihr in der Basisausstellung des Forum Wissen im Raum Labor sehen).

Typische Glasgeräte für Laborpraktika im Sammlungsschaufenster. Foto: Leonie Bathow

Besonders im Bereich der Biochemie verwenden die Wissenschaftler*innen in neuerer Zeit vermehrt auch Laborgeräte aus modernen Kunststoffen, wenn dies von Vorteil ist. Hierzu gehört der schon genannte Bioreaktor, der aus Polycarbonat besteht. Er ist als Bestandteil einer größeren Apparatur ein wichtiges Hilfsmittel in der biochemischen Spitzenforschung. “Ein Reaktor ist einfach eine besondere Art von Gefäß, in dem bestimmte wissenschaftlich untersuchbare chemische Prozesse ablaufen”, erläutert der Kustos. An den Reaktor können verschiedene Schläuche, Filter und Adapter angeschlossen werden. Über diese können die Chemiker*innen dann beispielsweise Gase wie Sauerstoff, Stickstoff oder Kohlendioxid hinzufügen oder fernhalten. Auch ein Rührwerk für die Durchmischung von Flüssigkeiten ist Teil des Reaktors.

Der Bioreaktor, hergestellt 2019 vom Göttinger Unternehmen Sartorius. Foto: Martin Liebetruth

In der biopharmazeutischen Forschung werden in solchen Reaktoren spezifische Zellen unter geeigneten kontrollierten Bedingungen (Nährmedium, Temperatur, pH-Wert) kultiviert und erforscht – beispielsweise zur Entwicklung und Herstellung von Impfstoffen gegen Viren und (eher noch Zukunftsvision) gegen Krebs. Die Zellen sind im Grunde kleine ‚chemische Fabriken‘, die genetisch so ‚programmiert‘ werden können, dass sie die gewünschten Moleküle produzieren.

Ein Stück Zeitgeschichte

Durch die COVID-19-Pandemie kam die biopharmazeutische Forschung mit der schnellen, erfolgreichen Impfstoffentwicklung in die Medien. Die lebenswichtige Bedeutung von biochemischer Forschung wurde gesellschaftlich heiß diskutiert. Aufgrund dieser Aktualität hat sich Ulrich Schmitt für die Präsentation des Bioreaktors entschieden. Mit einem baugleichen Exemplar wurde nämlich die erste Charge eines auf neuartiger mRNA-Technologie basierenden Corona-Impfstoffes hergestellt.

Der Kustos ist stolz, dieses Objekt in seiner Sammlung zu haben. Es bildet ein Stück aktueller Zeitgeschichte ab und passt perfekt in das Konzept seiner vergleichsweise jungen Sammlung – die es erst seit 1979 gibt. Für die Präsentation im Sammlungsschaufenster hat sich Ulrich Schmitt noch auf die Suche nach leeren Ampullen des Corona-Impfstoffes gemacht. Diese könnt ihr ebenfalls in der Vitrine betrachten. Ob sie bald von historischem Wert sein werden?

Leere Ampullen des Corona-Impfstoffes. Foto: Leonie Bathow