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Vorfahren von Maori und Moriori kehren nach Hause zurück

Feierliche Restitution von Gebeinen an Maori und Moriori an Aotearoa Neuseeland, Foto: Peter Heller

In einer bewegenden Zeremonie hat die Universität Göttingen Anfang Juni Gebeine von Vorfahren – Tūpuna – der Māori und Moriori an eine Delegation aus Vertreter*innen der beiden Communities, des Nationalmuseums von Neuseeland Te Papa Tongarewa und der neuseeländischen Botschaft zurückgegeben. Hier geht es zum Live-Mitschnitt.

Die human remains waren Teil der Blumenbachschen Schädelsammlung und der Anthropologischen Sammlung der Universität Göttingen. Sie stammen von 32 Individuen, wie die Recherchen der Wissenschaftler*innen des von der VolkswagenStiftung Hannover geförderten Forschungsprojekts „Sensible Provenienzen“ ergeben haben.

Dr. Te Herekiekie Herewini, Leiter des Repatriation-Programms am Museum of New Zealand Te Papa Tongarewa, war als Fellow am Projekt beteiligt. Er erklärt: „Durch unsere Untersuchungen konnten wir ermitteln, dass die ancestral remains von Moriori von Rēkohu (Chathaminseln) und Māori aus Aotearoa (Neuseeland) stammen, und wir konnten herausfinden, auf welchem Weg sie in die beiden Sammlungen gelangten.“

Der Botschafter Neuseelands Craig Hawke, der ebenfalls bei der Zeremonie anwesend war, betonte: „Die Rückführungen sind Ausdruck der engen diplomatischen Beziehungen zwischen Aotearoa Neuseeland und Deutschland, die sich seit deren Aufnahme vor 70 Jahren entwickelt haben.“

„Wir unterstützen die Initiative der Bundesregierung, dass sacred ancestral remains in Sammlungen identifiziert und in ihre Heimat zurückgeführt werden müssen“, sagte Göttingens Universitätspräsident Prof. Dr. Metin Tolan.

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“The history of repatriation of Maori and Moriori ancestors is more than 3,000 years old” – Interview with Fellow Te Herekiekie Herewini

The current debate on cultural property from colonial contexts also affects museums and academic collections of human remains. The “Sensitive Provenances Project” at the University of Göttingen aims to open up new avenues for the repatriation of human remains to former European colonies. More specifically, it addresses the human remains of 100 individuals from New Zealand, Palau, Tanzania and Cameroon that are currently housed in the Blumenbach Skull Collection and the Anthropological Collection of the University of Göttingen.

Te Herekiekie Herewini is the Head of Repatriation at the Museum for New Zealand Te Papa Tongarewa. He is one of the fellows involved in the project. In the following interview, he talks about the research he is doing in Göttingen, his connection with the human remains from Maori und Moriori communities in New Zealand and his country’s history of repatriation.

The audio includes a chant performed by Te Herekiekie Herewini to honour his ancestors whose human remains are currently still part of the Blumenbach collection in Göttingen.

Interview with Fellow Te Herekiekie Herewini
Te Herekiekie Herewini giving a Lecture at the University in Göttingen
Credits: Sofia Leikam
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Was man nicht zeigen darf – ein Gespräch mit Susanne Wernsing

Die Ausstellung „Rassismus. Die Erfindung der Menschenrassen“ im Dresdener Hygienemuseum ist am 6. Januar 2019 nach mehr als einem halben Jahr zu Ende gegangen. Melina Wießler spricht im Rahmen des Werkstattgesprächs „Ausstellen, was man nicht zeigen darf“ für den Forum Wissen-Blog mit Kuratorin Susanne Wernsing über Strategie und Resümee ihrer Arbeit.

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Hinter den Kulissen Sammlung Sensible Objekte

Koptische Textilien für das Forum Wissen

Eine Schenkung spätantiker ägyptischer Textilien des Ehepaars Fritz und Renate Helten bereichert seit 2016 die Ägyptologische Sammlung der Universität Göttingen. Unsere Autorin Clara Helming sprach mit Fritz Helten und der Koptologin Dr. Suzana Hodak über die historischen Stoffe und ihre lange Reise nach Göttingen.

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Alte Schädel und neue Technik

Der US-amerikanische Anthropologe Paul Wolff Mitchell forscht mit moderner 3D-Scantechnik über die Blumenbachsche Schädelsammlung. Dafür besucht er die Göttinger Sammlung und unser Autor Christian Vogel, Referent für Wissensforschung der Zentralen Kustodie, schaute ihm bei der Digitalisierung der Schädel über die Schulter.

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Decolonizing Knowledge – Objekte, Sammlungen und die Ambivalenz der Aufklärung

[grey_box] Vortragsreihe im Sommersemester 2018
Montags, 18.15 bis 19.45 Uhr
Taberna in der Alten Mensa, Wilhelmsplatz 3, 37073 Göttingen [/grey_box]

Wie in vielen universitären Sammlungen finden sich auch in Göttingen Objekte, die im Zuge der europäischen Kolonialherrschaft nach Deutschland kamen. Mit der Entwicklung der Basisausstellung im Forum Wissen stellt sich daher verstärkt die Frage, wie solche Objekte in die Ausstellung integriert werden können, ohne dabei einen kolonialen Blick zu reproduzieren. An diesem Punkt setzt die Vortragsreihe “Decolonizing Knowledge. Objekte, Sammlungen und die Ambivalenz der Aufklärung” an. Die Referentinnen und Referenten fragen anhand unterschiedlicher Fallbeispiele danach, wie universitäre Sammlungsobjekte zu einem zentralen Instrument wurden, um Wissen über den „Anderen“ herzustellen und zu vermitteln. Sie betrachten zudem, welche Rolle die Ideale der Aufklärung hierbei spielten.

Weitere Informationen zur Vortragsreihe.

 

Variationen orientalischer Schuhe, Abbildung aus Bruhn, Wolfgang; Tilke, Max: A History of Costumes in Depictions, 2001

Termine

14.5. Richard Hölzl (Göttingen): Das Zirkulieren von Intimität. Tansanische Initiationsobjekte aus der Sammlung des Missionars und Ethnologen Meinulf Küsters und ihre Karriere im 20. Jahrhundert

28.5. Rebekka Habermas (Göttingen): Born to go wild? Koloniale Forschungsreisen im langen 19. Jahrhundert

4.6. Regina Sarreiter (Berlin): Ton, Steine, Scherben – Synchronisierte Objektgeschichten jenseits institutioneller Ordnung

5.6. 18–20 Uhr: Philipp Schorch (München): Curating socialist environments: (Post)colonial histories, ethnographic exhibitions and public art interventions [zusammen mit Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte]
Abweichender Veranstaltungsort: PH 20, Humboldtallee 19/21

11.6. Karin Hostettler (Basel): Zum Othering in der kritischen Philosophie Kants
Abweichender Veranstaltungsort: Auditorium, Weender Landstraße 2, Seminarraum Erdgeschoss

18.6. Sebastian Garbe (Gießen): Die Sozialwissenschaften dekolonisieren: mit anstatt über den Süden denken.

2.7. Ruth Sonderegger (Wien): Eine Weichenstellung von irritierender Nachhaltigkeit. Zur Entstehung der deutschsprachigen ästhetischen Theorie im globalen und kolonialen Kontext des 18. Jahrhunderts

9.7. Nikita Dhawan (Innsbruck): Rescuing the Enlightenment from the Europeans

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Göttingen – eine Kolonialmetropole?

Was ist koloniales Wissen? Wie wurde es Anfang des 20. Jahrhunderts vermittelt? Welche Rolle spielte dabei die Uni Göttingen? Um das herauszubekommen, durchstöberten Studierende der Geschichtswissenschaft das Universitätsarchiv. Ihre aktuellen Forschungsergebnisse präsentieren sie nun in der Ausstellung „Göttingen – eine Kolonialmetropole?“ im Kulturwissenschaftlichen Zentrum am Heinrich-Düker-Weg 14. Wer sich für den Einfluss Göttingens in der Kolonialzeit interessiert, sollte sich also beeilen: Die Plakatpräsentation ist nur noch bis Sonnabend, 7. April 2018, zu sehen. Julian Schima war beim Aufbau dabei und hat mit Lehrenden und Studierenden gesprochen.

Seminarleiterinnen und Studierende beim Aufbau der Ausstellung

Einblicke in das Universitätsarchiv

Um einen Einblick in die Rolle und Position der Universität Göttingen zur Kolonialzeit zu erhalten, sichteten die Studierenden am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte unter anderem Schriften aus dem Universitätsarchiv. Das Archiv ist eine nahezu vollständige Sammlung mit Verwaltungsschriften der Universität seit 1737. Die Archivalien sind von unschätzbarem Wert. Hier sind auch die Bestände des Kuratoriums, Rektorats und der verschiedenen Fakultäten archiviert. Jeder Interessierte hat Zugang zu den Materialien. Die Sammlung dient der Universitäts- und Wissenschaftsforschung als wichtige Quellengrundlage.

Die Studierenden werteten Dokumente aus dem Archiv aus, die vorher noch nicht untersucht wurden. Sie sahen zum Beispiel die Vorlesungsverzeichnisse der Universität von 1899 bis 1932 durch. Hierbei entdeckten sie, selbst zum Erstaunen der Seminarleiterinnen, dass nach 1900 quer durch alle Fakultäten Wissen vermittelt wurde, das auf kolonialen Zusammenhängen beruhte. Theologische, philosophische und sogar medizinische Lehrveranstaltungen gaben somit Wissen weiter, das die deutsche Kolonialherrschaft unterstützte. Der Einfluss der Universität – das belegen die Vorlesungsverzeichnisse der Archivsammlung – war also ungeahnt groß.

Seminare, die an der Universität Göttingen zwischen 1899 und 1832 angeboten wurden, gefunden in archivierten Vorlesungsverzeichnissen

„Ich hätte nicht gedacht, dass die Universität Göttingen zu Beginn des 20. Jahrhunderts so sehr zur Legitimation des Kolonialismus beigetragen hat“, ist Masterstudent Andreas Weis von den Ergebnissen der Recherchen überrascht. „Andererseits finde ich es spannend, dass damalige Studierende vereinzelt auch antikoloniale Kritik äußerten.“

Studentische Forschung – in der Öffentlichkeit

Die Ergebnisse des Projektseminars sind nun auf großen Plakaten ausgestellt. Der Aufbau und die Ausstellungseröffnung bilden den Abschluss der Lehrveranstaltung. „In dem Projektseminar wurde den Studierenden Forschungsarbeit praktisch zugänglich gemacht“, sagt Karolin Wetjen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Geschichte. „Auch in die Konzeption der Ausstellung waren die Studierenden einbezogen.”

Aufbau der Ausstellung im Kulturwissenschaftlichen Zentrum
Aufbau der Ausstellung im Kulturwissenschaftlichen Zentrum

Mit solchen Lehrveranstaltungen wird neben dem Forschergeist auch die Fähigkeit und Lust gefördert, Ausstellungen zu konzipieren, wie sie auch zukünftig im Forum Wissen zu sehen sein werden. Andreas Weis freut sich darüber, dass seine und die Forschungsergebnisse seiner Kommilitoninnen und Kommilitonen über die Ausstellung den Weg an die Öffentlichkeit finden. „Üblicherweise ist die öffentliche Aufmerksamkeit für die wissenschaftliche Arbeit, die man als Student im Studium unternimmt, wie etwa in Hausarbeiten, nicht so groß. Hier beschäftigt sich die Öffentlichkeit aber damit.“

Die koloniale Geschichte der Universitätssammlungen

Prof. Dr. Rebekka Habermas, die gemeinsam mit Karolin Weitjen das Seminar leitete, plant bereits weitere Lehr- und Projektveranstaltungen zu der Frage, wie kolonial das Wissen ist, das mithilfe der Göttinger Sammlungen produziert wurde. Geplant ist unter anderem, die koloniale Geschichte der Universitätssammlungen und deren Objekte genauer zu untersuchen. Studierende und Forschende werden dann auch über den Umgang mit Sammlungsobjekten aus den Kolonien, die künftig im Forum Wissen in Göttingen ausgestellt werden, diskutieren.

Materielle Kulturgüter, die aus den Kolonien in Sammlungen und Museen gebracht wurden, gelten als sensible Objekte, da ihre Inbesitznahme möglicherweise mit unrechten Mitteln erfolgte. Die Provenienzforschung beschäftigt sich mit der Herkunft dieser Dinge und wie sie in den Besitz der Sammlungen gelangten. Aktuelles Wissen, das sich auf Objekte aus den Kolonien und den Forschungsreisen in diese stützt, bezeichnet man als postkolonial.

„Unsere Ergebnisse werden sicherlich auf das Forum Wissen in der Frage ausstrahlen, welches Wissen auf kolonialen Verflechtungen beruht und wie man in Ausstellungen – gerade im Forum Wissen – mit sensiblen Objekten aus den Kolonien umgeht“, sagt Habermas.

 

 

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Embryonen und Feten unbekannten Ursprungs. Provenienzforschung in der Sammlung Blechschmidt

Mit der „Humanembryologischen Dokumentationssammlung Blechschmidt“ verfügt das Zentrum Anatomie der Göttinger Universität über eine außergewöhnliche Sammlung. Zum einen sind Sammlungen von Schnittserien menschlicher Embryonen heute sehr selten und weltweit existiert weniger als ein Dutzend. Zum zweiten sind beeindruckende, fast einen Meter hohe Kunststoffmodelle zur menschlichen Entwicklung auf Grundlage der Präparate ein wesentlicher Teil der Sammlung. Diese waren lange Zeit eine Forschungsgrundlage der Göttinger Anatomie und werden bis heute in der Ausbildung von Mediziner*innen eingesetzt.

Embryo 3,4 mm aus einem Buch Blechschmidts von 1973
Zeichnung eines Modells des Embryo 3,4 mm (09.04.1954) aus der Sammlung in einem Buch Blechschmidts von 1973. Mehrere Modelle zu diesem Präparat stehen bis heute im Zentrum Anatomie.

Eine fragwürdige Vergangenheit

Leider ist die Sammlung aber nicht nur besonders, sondern auch besonders umstritten. Der frühere Institutsleiter und Sammler Erich Blechschmidt (1904-1992) schuf die Sammlung in seiner Göttinger Zeit von 1942 bis in die 1970er Jahre. Ihm wird seit mindestens 30 Jahren vorgeworfen, er hätte zumindest einige der Präparate aus nationalsozialistischen Verbrechen gewonnen und diese Herkunft nach Ende des Krieges gezielt verschleiert.

Die nun untersucht wird

Zum 1. August 2017 startete ein Forschungsprojekt zur Provenienz, also Herkunft, der Sammlung , das diesen Vorwürfen nachgeht und das ich durchführe. Vor diesem Projekt hatte ich mich als Wissenschaftshistoriker vor allem die Geschichte von Lehrmitteln der Biologie an Schule und Hochschule, ihrer Entwicklung und Nutzung erforscht. Als ich die Stelle antrat, interessierten mich an der Sammlung vor allem die großen Modelle.

Blick in den Sammlungsraum der Anatomie ca. 1964.
Blick in die Modellsammlung in der ursprünglichen, von Blechschmidt vorgenommenen Aufstellung im Zentrum Anatomie, ca. 1964. Die Fotografie war in einem Ordner abgeheftet.

Weshalb der Blick in die Vergangenheit wichtig ist

Mit Provenienzforschung zu Sammlungsobjekten, zumal mikroskopisch kleinen, hatte ich mich bis dahin nur am Rand beschäftigt. Klar war mir aber, welchen Zielen eine solche Forschung dient. Über die Aufklärung von Sammlungsgeschichte, Erwerb und Verwendung der Sammlungsobjekte entsteht eine Grundlage für die ethische Beurteilung der Sammlung und deren Einsatz in Forschung und Lehre, sofern eine Benutzung nach der Herkunftsklärung überhaupt noch ethisch vertretbar ist. (vgl. dazu auch den einführenden Beitrag von Christian Vogel).

Die Sammlung wächst durch die historische Forschung

Für meine Forschung steht mir eine große Vielfalt von Quellen zur Verfügung, die ich teilweise erst im Laufe meiner Nachforschungen im Zentrum Anatomie in entlegenen Schränken fand. Es ist wirklich erstaunlich, wie viel zwischenzeitlich bedeutungslos gewordenes Material sich in manchen Institutionen erhalten hat und ‚wiederentdeckt‘ werden kann. So existiert ein umfangreicher Briefwechsel zur Einlieferung von Embryonen, woran in den 1940er bis 1960er Jahren mehr als 200 Personen beteiligt waren. Weitere Quellen sind eine Sammlungskartei mit Präparationsdaten und Abbildungen der Präparate, ein Schuber mit handschriftlichen Protokollen zu mehreren Hundert Präparationen und eine riesige Sammlung fotografischer Platten, die Präparate und Modelle zeigen.

Dankesbrief Blechschmidts zum Embryopräparat 3,4 mm (09.04.1954).
Dankesbrief Blechschmidts an den Einlieferer des oben gezeigten Präparates eines Embryo von 3,4 mm (09.04.1954), gewonnen bei einer Operation wegen Gebärmutterhalskrebs.

Mit der Sammlung wachsen die Aufgaben

Derzeit bin ich dabei, dieses Material auszuwerten sowie es miteinander und mit anderen Quellen und Aussagen von Zeitzeugen abzugleichen. Für einige der gefundenen Materialien habe ich sogar eigene kleine Projekte beantragt; sie werden in den nächsten Monaten von Hilfskräften digital erfasst. Ich hoffe, am Ende die Geschichte vieler der über 400 Präparate detailliert nachvollziehen zu können.

Karteikarte mit Foto zum Präparat 3,4 mm.
Karteikarte zum Embryo 3,4 mm (09.04.1954) aus der Sammlungskartei. Die Fotografie zeigt das Präparat vor der Aufarbeitung als Schnittserie, was auf der Karte detailliert dokumentiert ist.

Unprofessionelle Dokumentation

Erste Ergebnisse meiner Forschung habe ich am 16.03.2018 im Rahmen eines öffentlichen Symposiums zur Sammlung im Zentrum Anatomie vorgestellt (Bericht im Göttinger Tageblatt und NDR-Hörfunk).Schon jetzt ist deutlich, dass Blechschmidt nur wenige Informationen zu den Präparaten in seiner Sammlung notierte oder überhaupt bei den liefernden Medizinern anfragte. Mit den zahlreich vorhandenen Archivalien werde ich für viele Präparate eine Herkunft aus Menschenrechtsverletzungen ausschließen können. Es wird aber ein Teil mit unklarem Ursprung übrig bleiben, der möglicherweise aus einem Unrechtskontext wie etwa Zwangsabtreibungen im Nationalsozialismus stammt. Meine Aufgabe  für die übrige Projektlaufzeit ist es daher, die Dokumentation der Sammlung zu verbessern und damit die Zahl fragwürdiger Präparate zu reduzieren.

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Handle with care! Sensible Objekte in den universitären Sammlungen Göttingens

In universitären Sammlungen finden sich viele Objekte, deren Einbindung in Forschung und Lehre oder deren Präsentation in einer Ausstellung oder im Netz ein besonderes Taktgefühl verlangen. Für solche Sammlungsgegenstände hat sich der Begriff „sensible Objekte“ etabliert. In der gleichnamigen Blog-Reihe berichten wir ab sofort darüber, wie wir in unterschiedlichen Sammlungen und Projekten mit diesen Objekte umgehen.

Aus der Blechschmidt-Sammlung: Präperate menschlicher Embryonen, die als Schnittserien auf Glasplatten aufgezogen und auf Pappplatten angeordnet wurden.

Was sind sensible Objekte?

Wir betrachten Objekte als sensibel, wenn es sich um menschliche Überreste oder sakrale Objekte handelt, oder wenn ihr Erwerb und Transfer in eine Sammlung nach heutigem Verständnis unrechtmäßig war. Darunter fallen etwa Kunstgegenstände, die während der NS-Diktatur durch Enteignung, Raub oder erzwungenen Verkauf den Besitzer wechselten. Aber auch wissenschaftliche Objekte, die im Zuge der europäischen Expansion seit dem 15. Jahrhundert von Reisenden, Forschern, Händlern oder Kolonialbeamten nach Europa gebracht wurden, können als sensibel betrachtet werden. Neben ethnografischen Objekten und menschlichen Präparaten gelangten auch Messdaten, Körperbeschreibungen, Fotografien oder Gipsabgüsse, die von lebenden Personen angefertigt wurden, an europäische Museen und Universitäten – häufig ohne die Kenntnis oder gar Zustimmung der betroffenen Personen.

Sensible Objekte in den Göttinger Sammlungen

In Göttingen betrifft das nicht nur Sammlungen, die menschliche Überreste enthalten, wie etwa die Blechschmidt-Sammlung menschlicher Embryos, die Blumenbachsche Schädelsammlung mit rund 840 Objekten oder die Anthropologische Sammlung, deren Grundstock ein umfangreiches Konvolut menschlicher Schädel aus dem Hamburger Völkermuseum bildet. Auch viele ethnologische oder naturkundliche Objekte, die in einem kolonialen Kontext gesammelt und nach Göttingen gebracht wurden, sind heute Bestandteil der zoologischen, botanischen oder ethnologischen Sammlungen.

Sammlungspotal ohne Objektabbildung
Bewusste Leerstele im Sammlungsportal: Nicht jedes Objekt bilden wir im Netz ab.

Alle Formen der Auseinandersetzung mit sensiblen Objekten sind hierbei betroffen: Ausstellungen und Sammlungspraktiken, die Darstellung im Netz, zum Beispiel im Göttinger Sammlungsportal, sowie der Einsatz in Forschung und Lehre. Auch in der Planung der Basisausstellung für das Forum Wissen fragen wir, auf welche Weise wir sensible Objekte präsentieren und in die Ausstellung integrieren können.

In allen Fällen werfen sensible Objekte ethische Fragen auf, die nach sorgfältiger Prüfung der Erwerbsbedingungen von Objekten jeweils im Einzelfall entschieden werden müssen: Wie und in welcher Weise kann oder darf mit sensiblen Objekten geforscht und gelehrt werden? Dürfen sensible Objekte ausgestellt, und in welcher Form können sie gezeigt werden? Was soll mit sensiblen Objekten geschehen, wenn sie nicht ausgestellt werden und nicht mit ihnen gearbeitet wird?

Ein “heikles Erbe”, das viele Museen beschäftigt

Natürlich ist Göttingen nicht der einzige Ort, an dem man sich mit Objekten zweifelhafter Herkunft beschäftigt. Viele Museen und Forschungseinrichtungen machen ihr „heikles“ oder „schwieriges Erbe“ inzwischen zum Thema (so die Titel eines aktuellen Forschungsprojekts der Universität Tübingen in Kooperation mit dem Stuttgarter Linden-Museum und einer Ausstellung im Landesmuseum Hannover im Jahr 2017). Das Land Niedersachsen verfügt zudem mit dem Netzwerk Provenienzforschung über eine Einrichtung, die zu einer nachhaltigen Etablierung der Erforschung sensibler Objekte in den Sammlungen und Museen Niedersachsens beitragen soll. Vor allem die Debatten um das Berliner Humboldt-Forum (geführt zum Beispiel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung), in dem zukünftig die außereuropäischen Sammlungen Berlins ausgestellt werden sollen, machen den großen Bedarf an einer kritischen Auseinandersetzung mit den Herkunftskontexten und Ausstellungsweisen sensibler Objekte deutlich.

Karteikarte zu einem Schädel, der als Teil eines Konvoluts menschlicher Überreste in den 1950er Jahren vom Hamburger Völkerkundemuseum in die Anthropologische Sammlung nach Göttingen kam.

Mit Rückgabeforderungen indigener Gruppen konfrontiert, wurden vor allem im englischsprachigen Kontext seit den 2000er Jahren allgemeine Standards zum Umgang mit sensiblen Objekten und den Bedingungen ihrer Rückgabe formuliert. Seit 2013 existieren auch im deutschsprachigen Kontext mit den „Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen“ des Deutschen Museumbunds entsprechende Richtlinien. Doch während die Museen zunehmend gegenüber solchen Fragen ein Problembewusstsein entwickelt haben, stehen viele universitäre Sammlungen noch ganz am Anfang. Einen wichtigen ersten Beitrag dazu leistet ein kürzlich erschienener Sammelband, der aus der Perspektive unterschiedlicher universitärer Sammlungen und Museen das Thema systematisch bespricht.

Die Blog-Reihe „Sensible Objekte“

Die Blog-Reihe wird als eine Plattform dienen, um unterschiedliche Perspektiven aus den Göttinger Sammlungen und dem Forum Wissen auf sensible Objekte und Sammlungen zu bündeln. Dabei soll es nicht darum gehen, definitive Lösungen für den „richtigen“ Umgang mit sensiblen Objekten zu finden. Wir wollen vor allem die Diskussion darüber in Gang zu bringen und am Laufen halten. Den Aufschlag macht in wenigen Wochen Michael Markert, der sich momentan in einem zweijährigen Forschungsprojekt mit der Provenienz von Objekten in der Humanembryologischen Blechschmidt-Sammlung beschäftigt. In regelmäßigen Abständen werden dann Kustodinnen und Kustoden sowie Studierende aus ihrer Sicht über die Arbeit mit sensiblen Objekten berichten. Schließlich ergänzen wir die Reihe um Beiträge, die sich im Hinblick auf das Forum Wissen mit diesem Thema beschäftigen.