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Sprechende Pflanzen – „Tiny unpredictable material objects“

Blick ins Innere: Nasspräparate zeigen die anatomische Struktur der Brotfrucht.
Blick ins Innere: Nasspräparate zeigen die anatomische Struktur der Brotfrucht. Leihgaben aus dem Botanischen Garten und
dem Botanischen Museum Berlin. Foto: Martin Liebetruth

Unsere Sonderausstellung „Tiny unpredictable material objects“ begibt sich auf die Suche nach den historischen Wurzeln zweier Pflanzen – und lässt diese winzigen unvorhersehbaren materiellen Objekte, nämlich „Hudoo“ und „Brotfrucht“, ihre Geschichte erzählen.

“Artocarpus”, besser bekannt als Brotfrucht, ist eine wichtige Nutzpflanze, die heutzutage weit über ihr Herkunftsgebiet in Südostasien hinaus angebaut wird. Foto: Petr Kratochvil, CC0 Public Domain

Die Geburtsstunde der Botanik

Die Geschichte zahlreicher Wissenschaften, auch die der Botanik, ist eng verbunden mit kolonialer Ambition, Expansion und Ausbeutung: Auf den „Entdeckungsfahrten“ James Cooks im 18. Jahrhundert erstellten die ihn begleitenden Naturforscher nicht nur Karten der befahrenen Gebiete, sondern sammelten und dokumentierten auch Pflanzen der lokalen Flora. In den botanischen Zentren Europas diskutierte man über die bestmögliche ökonomische Nutzung der Gewächse und wetteiferte um die erstmalige Beschreibung ‚neuer‘ Pflanzenarten durch westliche Wissenschaftler. Dabei trat das lokale Wissen, auf welchem die Debatten aufbauten, im europäischen Diskurs immer mehr in den Schatten: So wurde der auf Tahiti gebräuchliche Name „Hudoo“ ersetzt durch die Bezeichnung „Barringtonia speciosa J.R. Forst. & G. Forst.“.

In sogenannten Herbarbelegen halten Botaniker*innen bis heute die wichtigsten Charakteristika einer Pflanze fest. Eine standardisierte Anleitung verfasste Carl von Linné bereits 1751 in seiner “Philosophia Botanica”. Das Exponat stammt aus der Göttinger Abteilung für Systematische Botanik (mit Herbarium) von Dr. Marc Appelhans. Foto: Martin Liebetruth

Spuren Ozeaniens in Göttingen

Mit der Umbenennung der Pflanze ehrten die Naturforscher Johann Reinhold Forster und sein Sohn Georg Forster den britischen Anwalt und Naturforscher Daines Barrington, der half, James Cooks‘ zweite Reise in die ‚Südsee‘ (1772-1775) zu finanzieren. Gleichzeitig betonten Vater und Sohn innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft ihr Anrecht auf die Erstbeschreibung der Pflanze, die sie auf Tahiti ‚entdeckt‘ hatten – der lokalen Bevölkerung war sie damals allerdings schon lange vorher bekannt.

Bis heute ist die Cook/Forster-Sammlung in Göttingen und weit darüber hinaus ein Begriff, die große Zahl ethnographischer Objekte aus Ozeanien ein Aushängeschild der Universität. Ein weiteres koloniales ‚Erbstück‘ ist das Georg Forster Herbarium, dessen Pflanzen heute den Grundstein der Ausstellung „tiny unpredictable material objects“ bilden.

“Tell them, we are afraid. Tell them, we know nothing of politics or science, but we see what’s in our own backyard.” Kathy Jetnil-Kijners’ Videoinstallation “Tell them” setzt sich mit der durch Klimakrise und Kolonisierung bedrohten Natur auf den Marshall-Inseln auseinander. Foto: Louisa Hartmann

Eine Reise mit langem Epilog

Mehr als 250 Jahre liegt die Reise Cooks und der Forsters mittlerweile zurück – Das Jubiläum wühlt bei den Menschen in Ozeanien jahrhundertealte Erinnerungen an den Verlust von Land und Leben auf. Angesichts der Ankunft der nachgebauten „Endeavour“ – des Schiffs von Cook – kritisierten Aktivist*innen der Māori 2019, wie mit der Vergangenheit umgegangen wird, die so unterschiedlich erlebt wird: „Ihr seid an dem Ort, an dem eure Vorfahren unsere Leute ermordeten, nicht willkommen. Nehmt eure waka (dt.: Kanu) und verschwindet“. Proteste wie diese waren Anlass, sich auch in Göttingen im Rahmen des Projekts “Sammeln erforschen” kritisch mit der Entstehung des Georg Forster Herbariums auseinanderzusetzen. Für die Kuratorin Susanne Wernsing, die Forscher*innen der HTW Berlin und der Zentralen Kustodie der Universität Göttingen wurden die Pflanzen zu Zeugnissen kolonialer Expansion und westlicher Wissensproduktion in der frühen Botanik.

Kuratorin Susanne Wernsing erläutert das Ausstellungskonzept im Rahmen einer Vernissage. Foto: Martin Liebetruth

Tiny unpredictable material objects

Als Nasspräparate, zwischen Papier gepresst oder im Film: Im Freiraum des Forum Wissen nehmen Hudoo und Brotfrucht Besucher*innen noch bis zum 14. Oktober 2022 mit auf eine Reise durch die Vergangenheit: Auf dem Weg durch die Sonderausstellung zeigen sich nicht nur Verflechtungen zwischen Göttingen und verschiedenen Inseln im Pazifik, sondern auch der lange Nachhall von scheinbar Vergangenem in unserer eigenen Gegenwart. In diesem Sinne eröffnet „Tiny unpredictable material objects“ eine Vielzahl postkolonialer Perspektiven, die das Narrativ von der vermeintlich glorreichen europäischen „Entdeckung“ in Frage stellen.

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Forum Wissen Sammlung

Das war die 5. Nacht des Wissens

Wenn Wissen wachhält: Letztes Wochenende durften wir euch zur 5. Nacht des Wissens begrüßen. Tüfteln am Mikroskop oder selbst einen Gipsabguss herstellen – im Forum Wissen und den Sammlungen konnten sich Jung und Alt nach Belieben austoben: Unsere Galerie zeigt die schönsten Impressionen.

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Forum Wissen

Forum Wissen erhält Museumsgütesiegel

Schon vor seiner Eröffnung hat das Forum Wissen das Museumsgütesiegel des Museumsverbandes für Niedersachsen und Bremen erhalten: Ab sofort begrüßt es Besucher*innen am Eingang des Gebäudes.

Foto: Helge Krückeberg

Im April nahm die Projektleiterin Dr. Marie Luisa Allemeyer gemeinsam mit ihrem Team und dem künftigen wissenschaftlichen Leiter des Forum Wissen, Prof. Dr. Christoph Bleidorn, die Auszeichnung entgegen. Die Jury lobte das „beispielhafte Konzept“, den wissenschaftskritischen Ansatz und die geplanten Räume für Selbstreflexion. Der Museumsverband verlieh die Auszeichnung zunächst ein Jahr auf Zeit und prüft die Umsetzung des Konzepts.

Foto: Peter Heller

Pünktlich zum Eröffnungswochenende am 4. und 5. Juni schmückt die Auszeichnung das Forum Wissen: Bei der Montage des Museumsgütesiegels legten Bleidorn, Allemeyer und Universitätspräsident Prof. Dr. Metin Tolan selbst Hand an. 

Foto: Peter Heller

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Ausstellung

Auf den Spuren der “Dame am Klavier”

Unter einer fingerdicken Schicht Staub verbirgt sich das Gesicht einer jungen Frau, deren Blick sehnsüchtig in die Ferne gerichtet ist. Während einer Haushaltsauflösung findet die Familie Winterberg ein Ölgemälde: Ein unerwarteter Schatz inmitten alter Möbel, Bücher und Teppiche. 

Ein rätselhafter Blick in die Ferne: Das Schicksal der jungen Frau lag lange Zeit im Dunklen.

Ein unerwarteter Schatz

Das Bild zieht alle in den Bann. Nach der Reinigung kommen mehr Details ans Tageslicht. Gekleidet ist die Frau in ein einfaches, wenn auch elegantes dunkelrotes Kleid. Die fast schwarzen Haare trägt sie seitlich über die Ohren hochgesteckt, dazu schlichte Ohrringe. Auf dem Klavier neben ihr ist ein Notenblatt von Chopins 24 Préludes, Op. 28 spielfertig aufgeschlagen. So gefühlsbetont wie Chopins Musik ist auch der Grundton des Gemäldes, welches abgerundet wird durch den Blick auf das Meer. Auf den Wellen segelt ein Schiff in die Ferne. 

Julia Winterberg in der Fernsehsendung „Kunst + Krempel“ (5. März 2016). 

Wer ist die Unbekannte?

Die Münchnerin Julia Winterberg hat lange in der Bankenszene gearbeitet. Jetzt, im Ruhestand, bietet sich ihr endlich die Zeit, dem lang gehegten Familienrätsel auf die Spur zu kommen. Jahre nach der Haushaltsauflösung schaute die Unbekannte tagein tagaus ins Wohnzimmer von Winterbergs Eltern. Bereits ihre Mutter versuchte in den 70er-Jahren erfolglos herauszufinden, wen das Bild zeigt. Es kursierten lediglich Theorien, etwa dass es eine Pianistin sein könnte. Vielleicht sogar ein bekannter Name, wie Clara Schumann?

Auch Julia Winterberg lässt die Geschichte des Bildes einfach keine Ruhe. Im Zeitalter von Fernsehen, Internet und Handy stehen allerlei Wege offen – sich in diesem medialen Labyrinth zurechtzufinden braucht jedoch Zeit. 2016 führt es sie in die Fernsehsendung „Kunst + Krempel“, die zwar die Identität der „Dame am Klavier“ auch nicht aufschlüsseln kann, aber im Gemälde Stilmittel des 19. Jahrhunderts entdeckt. Eine Zeitgenossin Queen Victorias, die sich an den aristokratischen Idealen der Epoche orientiert. Der Moderator wagt die Vermutung, es könne sich sogar um die Königin handeln – die Ähnlichkeit von Kinnpartie und Augen ist nicht von der Hand zu weisen.

Das Gemälde hat heute ein neues Zuhause im Auditorium gefunden und kann dort jeden Sonntag besichtigt werden. Foto: Katharina Anna Haase.

Dass es sich am Ende weder um Queen Victoria noch um Clara Schumann handelt, macht die Geschichte hinter dem Gemälde nicht weniger spannend. Seit kurzem können Neugierige das Bildnis der Dame in der Kunstsammlung der Universität Göttingen bewundern. Auf der zugehörigen Tafel erfahren wir auch ihren Namen: Zina Mansurova, eine russische Fürstin, porträtiert von Carl Oesterley. 

Auf Spurensuche

Kunsthistoriker und Hofmaler Carl Oesterley senior, gezeichnet von Adolf Zimmermann. 

In den Göttinger Sammlungen zeugen bis heute Handschriften, Skizzen und Gemälde vom Schaffen des Kunsthistorikers, der im 19. Jahrhundert an der Universität lehrte. Nebenbei gab er als Hannoveraner Hofmaler dem Adel ein Gesicht. Auf dem Gemälde Zina Mansurovas setzt Oesterley 1851 sein Monogramm in schwarzer Farbe auf den Fuß des Klaviers: Ein C umrundet durch ein O, auf dem dunklen Hintergrund nahezu unsichtbar. Als Julia Winterberg die Signatur über hundert Jahre später entdeckt, führt sie ihre Suche zu den Kunsthistoriker*innen der Universität Göttingen. Sie sind Oesterley-Expert*innen und können das Porträt der russischen Adligen Zina Mansurova zuordnen.

Die Mansurovs

Im Zarenreich ist die Familie der Mansurovs eine feste Größe in der russischen Aristokratie und unterhält enge Beziehungen zur orthodoxen Kirche. Zina Mansurova verbringt ihr Leben fernab ihrer Heimat in europäischen Metropolen, was auch Briefe der in Russland verbliebenen Mansurovs bezeugen. Ursache des familiären Exils ist die Heirat der Eltern – Cousin und Cousine – die der Moskauer Bischof Filaret Drozdov nach orthodoxem Recht ablehnte. Zina war demzufolge ein uneheliches Kind, eine Rückkehr nach Russland blieb ihr verwehrt. Ihr Vater trat in den diplomatischen Dienst für den russischen Zaren, der ihn mitsamt Familie nach Hannover (1847-1852) führte. Dort porträtierte Carl Oesterley zunächst ihn und später seine 21-jährige Tochter. Entsprechende Einträge entdeckt die Kunsthistorikerin Dr. Katja Mikolajczak im Inventarbuch Oesterleys. 

Oesterleys Liebe zum Detail: Das Notenblatt zeigt Frédéric Chopins 24 Préludes, Op. 28.

Anders als die Mansurovs im Zarenreich, deren Schaffen durch politische und religiöse Ämter gut nachvollziehbar ist, findet sich Zina nur gelegentlich im Licht der Geschichte wieder. Ihre Position in der höfischen Gesellschaft ermöglichte ihr den Kontakt zu prominenten Zeitgenoss*innen, wie Nietzsche, den sie in späteren Lebensjahren über eine gemeinsame Freundin kennenlernte. Das Gemälde Oesterleys verewigt weitere Bruchstücke ihres Alltags zwischen Verpflichtungen und Vergnügungen der höheren Gesellschaft. Ihre Herzensangelegenheit mag das Klavierspiel gewesen sein. Oesterley präsentiert sie an einen Flügel gelehnt. Gefühl in die Préludes zu legen, lernte sie von Chopin höchstselbst, wie Nachforschungen an der Universität Göttingen nahelegen. 

Ein Gemälde – viele Geschichten

Julia Winterberg hat sich entschieden, das Gemälde der Göttinger Kunstsammlung zu schenken. Nachdem es die Mansurovs bei Oesterley in Auftrag gaben, hat es einen langen Weg hinter sich, der aus heutiger Sicht nur in Bruchstücken rekonstruiert werden kann: In den Besitz der Familie Winterberg gelangte es vermutlich durch einen Vorfahren, der Kammerdiener eines englischen Diplomaten war und so potenziell Kontakt zum Hannoveraner Hof hatte. Von da an verloren sich die Spuren des Gemäldes, bis es die Winterbergs bei der Haushaltsauflösung vom Staub befreiten.

Mit der Schenkung sind Julia Winterbergs Nachforschungen zum Gemälde und zum Schicksal der jungen Adeligen nicht beendet. Sie möchte weiter auf der Fährte der Mansurovs wandeln und plant bereits Reisen nach Den Haag und nach Paris, wo sie auf dem sagenumwobenen Friedhof Père Lachaise die Gräber der Familienangehörigen suchen möchte. Was sie erwartet ist ungewiss. Sicher ist jedoch, dass am Horizont noch viele Geschichten darauf warten, entdeckt zu werden. 

Julia Winterberg und Dr. Michael Thimann vor dem Gemälde. Göttinger Kunsthistoriker*innen waren maßgeblich an den Recherchen zur Geschichte des Gemäldes beteiligt. 
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