Mit der „Humanembryologischen Dokumentationssammlung Blechschmidt“ verfügt das Zentrum Anatomie der Göttinger Universität über eine außergewöhnliche Sammlung. Zum einen sind Sammlungen von Schnittserien menschlicher Embryonen heute sehr selten und weltweit existiert weniger als ein Dutzend. Zum zweiten sind beeindruckende, fast einen Meter hohe Kunststoffmodelle zur menschlichen Entwicklung auf Grundlage der Präparate ein wesentlicher Teil der Sammlung. Diese waren lange Zeit eine Forschungsgrundlage der Göttinger Anatomie und werden bis heute in der Ausbildung von Mediziner*innen eingesetzt.
Eine fragwürdige Vergangenheit
Leider ist die Sammlung aber nicht nur besonders, sondern auch besonders umstritten. Der frühere Institutsleiter und Sammler Erich Blechschmidt (1904-1992) schuf die Sammlung in seiner Göttinger Zeit von 1942 bis in die 1970er Jahre. Ihm wird seit mindestens 30 Jahren vorgeworfen, er hätte zumindest einige der Präparate aus nationalsozialistischen Verbrechen gewonnen und diese Herkunft nach Ende des Krieges gezielt verschleiert.
Die nun untersucht wird
Zum 1. August 2017 startete ein Forschungsprojekt zur Provenienz, also Herkunft, der Sammlung , das diesen Vorwürfen nachgeht und das ich durchführe. Vor diesem Projekt hatte ich mich als Wissenschaftshistoriker vor allem die Geschichte von Lehrmitteln der Biologie an Schule und Hochschule, ihrer Entwicklung und Nutzung erforscht. Als ich die Stelle antrat, interessierten mich an der Sammlung vor allem die großen Modelle.
Weshalb der Blick in die Vergangenheit wichtig ist
Mit Provenienzforschung zu Sammlungsobjekten, zumal mikroskopisch kleinen, hatte ich mich bis dahin nur am Rand beschäftigt. Klar war mir aber, welchen Zielen eine solche Forschung dient. Über die Aufklärung von Sammlungsgeschichte, Erwerb und Verwendung der Sammlungsobjekte entsteht eine Grundlage für die ethische Beurteilung der Sammlung und deren Einsatz in Forschung und Lehre, sofern eine Benutzung nach der Herkunftsklärung überhaupt noch ethisch vertretbar ist. (vgl. dazu auch den einführenden Beitrag von Christian Vogel).
Die Sammlung wächst durch die historische Forschung
Für meine Forschung steht mir eine große Vielfalt von Quellen zur Verfügung, die ich teilweise erst im Laufe meiner Nachforschungen im Zentrum Anatomie in entlegenen Schränken fand. Es ist wirklich erstaunlich, wie viel zwischenzeitlich bedeutungslos gewordenes Material sich in manchen Institutionen erhalten hat und ‚wiederentdeckt‘ werden kann. So existiert ein umfangreicher Briefwechsel zur Einlieferung von Embryonen, woran in den 1940er bis 1960er Jahren mehr als 200 Personen beteiligt waren. Weitere Quellen sind eine Sammlungskartei mit Präparationsdaten und Abbildungen der Präparate, ein Schuber mit handschriftlichen Protokollen zu mehreren Hundert Präparationen und eine riesige Sammlung fotografischer Platten, die Präparate und Modelle zeigen.
Mit der Sammlung wachsen die Aufgaben
Derzeit bin ich dabei, dieses Material auszuwerten sowie es miteinander und mit anderen Quellen und Aussagen von Zeitzeugen abzugleichen. Für einige der gefundenen Materialien habe ich sogar eigene kleine Projekte beantragt; sie werden in den nächsten Monaten von Hilfskräften digital erfasst. Ich hoffe, am Ende die Geschichte vieler der über 400 Präparate detailliert nachvollziehen zu können.
Unprofessionelle Dokumentation
Erste Ergebnisse meiner Forschung habe ich am 16.03.2018 im Rahmen eines öffentlichen Symposiums zur Sammlung im Zentrum Anatomie vorgestellt (Bericht im Göttinger Tageblatt und NDR-Hörfunk).Schon jetzt ist deutlich, dass Blechschmidt nur wenige Informationen zu den Präparaten in seiner Sammlung notierte oder überhaupt bei den liefernden Medizinern anfragte. Mit den zahlreich vorhandenen Archivalien werde ich für viele Präparate eine Herkunft aus Menschenrechtsverletzungen ausschließen können. Es wird aber ein Teil mit unklarem Ursprung übrig bleiben, der möglicherweise aus einem Unrechtskontext wie etwa Zwangsabtreibungen im Nationalsozialismus stammt. Meine Aufgabe für die übrige Projektlaufzeit ist es daher, die Dokumentation der Sammlung zu verbessern und damit die Zahl fragwürdiger Präparate zu reduzieren.
One reply on “Embryonen und Feten unbekannten Ursprungs. Provenienzforschung in der Sammlung Blechschmidt”
[…] Wer darüber hinaus mehr über die Sammlung und ihre Geschichte erfahren möchte, liest am besten hier weiter. Und wer sich für 3D-Repliken von Embryos interessiert, der kann die einzigartigen, […]