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Hinter den Kulissen Sammlung

Nesthäkchen – ein historisches Mädchenbuch mit emanzipatorischem Charakter

Soziale Rollen – und besonders Geschlechterrollen – begleiten uns im Alltag und sind gerade heute Thema eines vielschichtigen Diskurses. Ob ich mir jetzt auf YouTube Schminktutorials von schlanken Blondinen anschaue oder einen Liebesroman lese: Oft lassen sich Verhaltensmuster erkennen, die als besonders gut angesehen werden, oder eben als eher schlecht.

Nesthäkchen umarmt stürmisch ihren Bruder Hans.

Genau das findet man auch schon in Mädchenromanen der wilhelminischen Kaiserzeit, zum Beispiel in “Nesthäkchen” von Else Ury. Wenn die Titelheldin dadurch negativ auffällt, dass sie zu wild und zu unordentlich ist, dann hängt das vor allem damit zusammen, dass sie sich nicht so benimmt, wie ein Mädchen es sollte.

Vom Trotzkopf zur perfekten Hausfrau

Dass ein Mädchen sich zuerst nicht so verhält, wie es ihrer Rolle entspricht, ist typisch für die ‚Backfischliteratur‘. Bei diesem Genre kommt oft ein wildes, ungezähmtes Mädchen in ein Internat. Dort soll sie zu einer perfekten, also normgetreuen, jungen Frau zu werden. Wenn sie es dann geschafft hat, dem Frauenbild ihrer Zeit zu entsprechen, begegnet sie einem Mann. Diesen Mann heiratet sie und ist für immer glückliche Mutter und Hausfrau.

Das Mädchenbuch Emmy von Rhodens erschien erstmals 1885.

Dasselbe müsste auch für die “Nesthäkchen”-Reihe gelten. Eigentlich. Anders als bei anderen Backfischromanen (zum Beispiel “Der Trotzkopf”) werden die Gattungsmerkmale hier jedoch zum Teil nicht beachtet. Es gibt viele emanzipatorische Tendenzen, obwohl die Reihe schon vor etwa hundert Jahren veröffentlicht wurde.

Annemarie ist anders

So ist Bildung wichtiger als gewöhnlich und Annemarie arbeitet sogar nach ihrer Hochzeit. Sie ist eben mehr als bloß eine (Haus-)Frau, die tut, was man ihr sagt. Gerade weil sie ihren eigenen Kopf hat, erscheint sie dem Leser oder der Leserin so sympathisch.

Nesthäkchens Enkelin Marietta ist Kindergärtnerin geworden.

Vielleicht ist es gerade das, was dazu geführt hat, dass so viele Mädchen die Bücher gelesen und lieben gelernt haben. Bei unserer Ausstellung ZeitSpiegel im letzten Semester erzählten uns viele Besucherinnen und Besucher, wie sehr sie die Bände mochten. Auch mir hat es Spaß gemacht, die Reihe zu lesen, da Annemarie so interessant und kreativ ist.

Die eigene Rolle hinterfragen

Mir wurde dabei aber bewusst, dass es Geschlechterrollen auch heute noch gibt. Natürlich beschwert sich heute – anders als im Roman –  niemand, wenn wir ohne Hut auf die Straße gehen. Es gibt aber schon Dinge, die erwartet werden: Man denke an die eingangs erwähnten Zeitschriften und Videos für junge Mädchen. Wenn man “Nesthäkchen” liest, fallen vor dem Hintergrund der damaligen Geschlechterrollen auch die eigenen auf. Gerade diese Buchreihe eignet sich also, um sich mit sozialen Rollen auseinanderzusetzen, und das überzeitlich.

Gegen das Vergessen: Über die Autorin Else Ury.

Die Autorin und ihr Schicksal

Trotz der Beliebtheit ihrer Bücher hatte Else Ury aber kein sorgenfreies Leben. Bei unserer Ausstellung fiel auf, dass nicht viele Besucherinnen und Besucher über die Biografie der Autorin Bescheid wussten. Sie war eine erfolgreiche Autorin, doch im Zuge des Nationalsozialismus erlebte sie als Jüdin Repression und Verfolgung in Deutschland. So wurden ihre Bücher verbrannt, sie durfte keine neuen Bücher mehr veröffentlichen, und ein Großteil ihrer Familie emigrierte oder floh aus Deutschland. Um für ihre kranke Mutter zu sorgen, blieb Else Ury in Deutschland – und wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Besonders diese Seite ihrer Biografie sollte nicht vergessen oder verschleiert werden. Dieser Meinung war auch Marianne Brentzel, die 1992 mit ihrem Buch “Nesthäkchen kommt ins KZ” auf diesen Umstand aufmerksam machte.

Jaqueline Stephan in der Sammlung historischer Kinder- und Jugendliteratur.

Unsere Sammlung

Sowohl die “Nesthäkchen”-Bücher als auch “Nesthäkchen kommt ins KZ” und “Der Trotzkopf” befinden sich in der Sammlung historischer Kinder- und Jugendliteratur. Sobald die Sammlungen wieder öffnen können, ist bei uns jeder willkommen, sich diese und noch viele andere Bücher anzuschauen und durchzulesen.

Jaqueline Stephan

Die Autorin studiert Deutsch und Philosophie und betreut die Sammlung historischer Kinder- und Jugendliteratur an der Universität Göttingen. Das Interview mit ihr über “Nesthäkchen, Else Ury und die Sammlung historischer Kinder- und Jugendliteratur” finden Sie hier.

микрозайм с просрочками на карту Video-Interview mit Jaqueline Stephan.
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Ausstellung

Kinderliteratur prägt über Generationen hinweg

Das zeigt die neue Ausstellung „Zeit│Spiegel. Kinder- und Jugendliteratur der Jahre 1925 bis 1945“, die am Mittwoch, 30. Oktober 2019, um 18 Uhr in der Göttinger Paulinerkirche eröffnet wird. Unsere Schülerpraktikantin Sophia Juwien hat sich vorab für Sie umgesehen und mit dem Kurator der Ausstellung, Hartmut Hombrecher, gesprochen.

Hartmut Hombrecher: Kustos der Sammlung historischer Kinder- und Jugendliteratur.

Lieber Herr Hombrecher, was können Besucherinnen und Besucher in der neuen Ausstellung erwarten?

Kinderbücher prägen oft ein Leben lang. Schon als Kind, wenn die Fantasie und Kreativität noch sehr stark sind, orientieren sich Kinder gerne an Figuren aus ihren Büchern und übernehmen Verhaltensweisen oder Charakterzüge. Unsere Ausstellung zeigt, wie Kinder- und Jugendliteratur aus der späten Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus die damalige Generation beeinflusst hat und bis heute unser Denken und Handeln prägt. Wir bieten also eine Reise in eine Zeit voller Umbrüche.

Warum haben Sie sich für dieses Thema entschieden?

Wir besitzen eine wertvolle Sammlung von Sigrid Wehner. Sie sammelte rund 18.000 Kinder- und Jugendbücher der Jahre 1925 bis 1945. Diese zeigen das individuelle Portrait einer Kindheit vor und während des Zweiten Weltkrieges; sie geben Einblick in die Vorstellungen und Werte ihrer Generation. Das Besondere an der Ausstellung ist, dass wir viele der Bücher, die sonst nicht öffentlich zugänglich sind, nun erstmals in ihrem politischen und sozialen Kontext präsentieren.

Das Ausstellungsteam bei der Auswahl der Bücher.

Welchen Einfluss hatten Kinderbücher im Nationalsozialismus?

Kinder sind bekanntlich sehr neugierig und wissensdurstig, aber auch oftmals leicht zu beeinflussen. Gerade zur Zeit des Nationalsozialismus wurden diese Eigenschaften im frühen Alter der Kinder genutzt, um sie weltanschaulich zu beeinflussen. Antisemitische Werke wie Johanna Haarers „Mutter, erzähl von Adolf Hitler!“ oder Kriegspropaganda wie Hans Mefferts „Sturzkampfflieger schlagen Bresche“ sind nur zwei Beispiele von vielen manipulativen Kinderbüchern dieser Zeit. Heutzutage wären solche Themen und Schreibweisen für uns kaum denkbar und Bücher dieser Art würden uns surreal erscheinen. Werte und Eigenschaften wie eigenständiges Denken oder kritisches Hinterfragen werden mittlerweile viel stärker gefördert.

Können Sie das noch ein wenig ausführen?

Im Nationalsozialismus gab es eine sehr stark gleichgeschaltete Kinder- und Jugendpolitik. Ab 1933 prägte die massiv verschärfte Zensur die Literatur, sodass viele Bücher nicht mehr publiziert werden durften. Viele Autoren mussten ins Exil gehen und haben versucht, außerhalb Deutschlands weiter zu schreiben. Aber an der Zensur im Innenland kamen sie nicht vorbei. Dort war die Bandbreite groß an propagandistischen Werken, antisemitistischen Hetzschriften für Kinder, Führerbüchern und noch vielem mehr.

Sophia Juwien und Hartmut Hombrecher im Gespräch.

In der Ausstellung zeigen Sie auch Bücher, die speziell für Mädchen oder für Jungen geschrieben wurden. Worin unterschied sich denn die Literatur?

Vor allem die Themen, aber auch die Gestaltung der Bücher machen die vorhandene Zweiteilung deutlich. Es gab häufig idealisierte Selbstformen, die in Büchern präsentiert wurden: Bei den Mädchen war dies die Rolle der Ehefrau und Mutter. Für die Jungen gab es häufig Rollenbilder, die soldatische Männlichkeit repräsentierten. Jedoch haben diese Formen der zweigeteilten Literatur ihre Anfänge schon im 18. Jahrhundert gefunden. Unsere Ausstellung steht damit nicht am Anfang der Entwicklung, aber auch noch nicht am Ende. Auch heute hat man noch Jungen- und Mädchenbücher, die unterschiedliche Rollenvorstellungen vermitteln.

Bücher prägen über Generationen hinweg.

Sollten wir nicht genau deswegen heutzutage darauf achten, mehr Wert auf Gleichberechtigung und Gerechtigkeit zu legen, gerade was die „typische Rolle von Mann und Frau“ betrifft? Anregungen dazu gibt die Ausstellung „Zeit│Spiegel“ auf alle Fälle. Aber auch in ihrer Art und Weise unterscheidet sie sich von anderen Ausstellungen.

Wir präsentieren nicht nur Bücher zum Anschauen. Wir wollen die Besucherinnen und Besucher auch zum Nachdenken anregen, zur Selbstreflexion. Sie sollen nicht nur von außen auf die Vitrinen schauen, sondern auch zurückblicken und sich selbst als Teil der Ausstellung und der gezeigten Debatten betrachten. Aus diesem Grund haben wir zum Beispiel Spiegel eingebaut. Sie zeigen, dass Prägungen generationenübergreifend noch bis heute andauern und verringern die Distanz zum historischen Objekt.

Lieber Herr Hombrecher, vielen Dank für das Gespräch!

Ein kleiner Rückblick in die Geschichte unserer Zeit gewünscht? Nachvollziehen, welche Werte, Ideen und Überzeugungen man damals hatte, von sich selbst sowie der Gesellschaft? Neugierig geworden? Dann sollten Sie sich diese Ausstellung unter keinen Umständen entgehen lassen. Vielleicht wird der eine oder andere der älteren Generation sogar Werke wiedererkennen? Keine Angst, sie ist nicht nur für alte Hasen oder Wissenschaftler gemacht, sondern auch für junge interessierte Menschen. Jeder kann einen Bezug zu dieser einflussreichen Zeit herstellen, sich selbst reflektieren und am Ende verstehen, wie die damalige Kindheit aussah und wodurch sie geprägt wurde.

Freude und Aufregung kurz vor der Eröffnung.

Die Ausstellung ist noch bis zum 2. Februar 2020 in der Paulinerkirche am Papendiek 14 zu sehen. Geöffnet ist sie mittwochs bis freitags von 12 bis 18 Uhr und samstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr. Weitere Informationen gibt es unter www.uni-goettingen.de/zeitspiegel

Fotos: Martin Liebetruth

Mehr zu unseren Ausstellungen auf dem Forum Wissen-Blog.

 

 

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