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Gemmen, Gipsabgüsse und Göttingen

Im Archäologischen Institut Göttingen befindet sich die 1765 gegründete Sammlung der Gipsabgüsse. Diese Sammlung gibt einen Überblick über die mehr als 1000-jährige Geschichte der griechisch-römischen Bildhauerkunst. Sie enthält nicht nur Abgüsse großformatiger Statuen, sondern auch winziger Gemmen.

Was sind Gemmen?

Gemmen sind geschnittene Schmucksteine, die aus verhältnismäßig weichen Steinen geschnitten wurden. Die verwendeten Steinsorten waren dabei Tigerauge, Bergkristall, Rosenquarz, Amethyst, Granat, Roter und Gelber Japsis, Karneol, Sarder, Achate, Chalzedon und Chrysopras. Mit viel Erfindungsgeist entwickelten die Gemmenschneider ab dem 5. bis 6. Jahrtausend vor Christi Techniken, um die relativ weichen Steine mit freier Hand zu bearbeiten. Dabei wurde das Bildmotiv von den Steinschneidern als Vertiefung eingeschnitten.

Mit den Abgüssen, die in der Antike angefertigt wurden, konnten damals Briefe und Dokumente wie Urkunden als Siegel beglaubigt werden. Aber auch Waren, Kästchen, Gefäße und Türen wurden so verschlossen. Ob aus Ton oder Wachs – das Öffnen hätte die Siegel beschädigt und verraten, dass sich jemand Zugriff verschaffen wollte!

Die Abbildung zeigt Abdrücke von Gemmen im Sammlungsschaufenster des Forum Wissen
Die Abgüsse der Gemmen aus dem Archäologischen Institut Göttingen im Sammlungsschaufenster des Forum Wissen. Foto: Eva Völker

Wofür wurden Gemmen angefertigt?

Neben Münzen waren Gemmen in der Antike die kleinsten Kunstwerke, die hergestellt wurden. Bis auf Gemmen aus Glas konnten sie nicht vervielfältigt werden und waren deshalb immer ein Unikat. Gemmen wurden zum Beispiel als Schmuckstücke, Ehrengeschenke, Glücksbringer oder Amulette angefertigt. Dabei wurden ihnen magische Kräfte zugeschrieben und Verstorbenen mit ins Grab gegeben oder auch vererbt. Es gab nicht nur einfach geschnittene Gemmen, sondern auch richtige Meisterwerke!

Die Abgüsse der Gemmen

Im 18. Jahrhundert wurden umfangreiche Sammlungen von Gemmen erstellt. Sie galten als zentrale Quelle für die Kenntnis der antiken Kunst. Die Abgüsse solcher antiker Siegelsteine in Gips, Schwefel, Siegelwachs oder Siegellack sowie Sammlungen von ihnen wurden hauptsächlich im 18. Jahrhundert angelegt. Der größte Teil der Vorlagen für die Abgüsse stammt aus der Zeit etwa vom 6. Jahrhundert vor bis zum 6. Jahrhundert nach Christus. Die detaillierten Miniaturbilder der Abgüsse sind für uns ein spannendes Zeugnis der Antike!

Die Abbildung zeigt Gipsabgüsse von Gemmen im Detail aus dem Sammlungsschaufenster im Forum Wissen.
In Nahaufnahme: Antike Bildmotive. Foto: Eva Völker

Bei vertieft in die Gemmen eingeschnittenen Bildern hatten Abgüsse den Vorteil, dass dank des positiven Reliefs Details oft noch besser als im Original herausgelesen werden konnten. Sammlungen solcher Abgüsse nennt man Daktyliotheken. Viele davon sind uns gut erhalten, da sie üblicherweise in geschlossenen Kästen aufbewahrt wurden und somit meist unversehrt geblieben sind. Für diese Art der Sammlungen wurden die Abgüsse mithilfe von vergoldeten Papierrähmchen systematisch auf einer Trägerplatte angeordnet beziehungsweise in eine Schublade fest montiert.

Abgüsse von Gemmen aus der Archäologischen Originalsammlung

Das Göttinger Archäologische Institut verfügt nicht nur über eine große Zahl von Daktyliotheken sowie einzelnen Gemmenabgüssen, sondern auch über mehr als 600 originale Gemmen aus hauptsächlich römischer Zeit. Johann Friedrich Crome (1906-1962) fertigte 1931 das erste systematische wissenschaftliche Inventar dieser originalen Gemmen im Besitz des Göttinger Archäologischen Instituts an und publizierte einen Teil davon in einem Aufsatz. Crome, der damals noch keine 25 Jahre alt war, hatte allerdings wenig Erfahrung mit antiken Gemmen. Er zog daher Paul Arndt als Experten zu Hilfe, den zu der Zeit besten Kenner antiker Steinschneidekunst in München. Arndt erhielt das gesamte Originalmaterial, formte innerhalb einiger Monate alle 106 Stück ab und montierte sie auf vier Tafeln aus festem Karton. Diese Abgüsse wurden in mindestens zwei Sätzen hergestellt und: Sie sind noch heute am Göttinger Institut erhalten.

Die Abbildung zeigt Gipsabdrücke von Gemmen aus dem Sammlungsschaufenster im Forum Wissen.
Die Abgüsse der Gemmen aus dem Archäologischen Institut Göttingen auf Karton montiert. Foto: Eva Völker

Die Gipsabgüsse von Gemmen

Die Nummerierungen auf dem Karton verraten uns vermutlich, dass es sich hierbei um ein Arbeitsexemplar handelt, welches dann als Fotografievorlage für die Publikation diente. Dafür wurden die endgültigen Tafeln wahrscheinlich in höchster Präzision als Ganzes fotografiert und der freie Raum zwischen den Abgüssen dann einschließlich der Goldrähmchen wegretuschiert. Da die Abgüsse auf den endgültigen Tafeln nicht nummeriert sind, können sie nur in Verbindung mit den Abbildungen in Cromes Publikation benutzt werden.

Der Kasten als solcher präsentiert uns ähnlich wie traditionelle Daktyliotheken damals die Gemmenabgüsse ein Stück der europäischen Kunstgeschichte. Im Sammlungsschaufenster des Forum Wissen werden die Gemmenabgüsse in den Glasvitrinen gezeigt und die spannenden Details sind mit bloßem Auge zu betrachten!

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Rede, Buch, Ausstellung und Bühne

Wie Wissenschaftler*innen sich selbst darstellen, beschreibt der neue Band „Gesichter der Wissenschaft. Repräsentanz und Performanz von Gelehrten im Porträt“. Daniela Döring hat – noch vor Corona – die Präsentation des Buches in der Sammlung der Gipsabgüsse antiker Skulpturen besucht.

Katharina Müller in der Sammlung der Gipsabgüsse antiker Skulpturen.

Die Inszenierung

Der Wissenschaftler durchquert in lockerem Schritt den Raum, tritt an das Pult, stützt die Hände auf und wird größer, gewichtiger. Er räuspert sich. Sein Blick schweift über das zahlreich erschienene Publikum, das zu ihm aufsieht. Mit sicherer Stimme hebt er an zu sprechen, er begrüßt seine Zuhörenden und nach einer kleinen, bedeutungsschwangeren Pause, beginnt er seinen Vortrag mit einem Zitat eines allseits bekannten Wissenschaftlers.

Dieses Szenarium ist im Wissenschaftsbetrieb nur allzu bekannt. Wenngleich es in ganz unterschiedlichen Formen auftritt – etwa in Abhängigkeit von Herkunft oder Geschlecht –, gilt es für alle Statusgruppen, diesen traditionell männlich und bildungsbürgerlich konnotierten Habitus einzuüben, um die eigene wissenschaftliche Expertise, Autorität und Souveränität – im wahrsten Sinne des Wortes – zu verkörpern. Unzählige Male konnten wir diesem Schauspiel im universitären Alltag bereits beiwohnen, freilich ohne es genau zu sehen. Denn erst durch die Unsichtbarmachung entfaltet es seine volle Wirksamkeit.

Christian Vogel eröffnet die Veranstaltung.

Die Präsentation

Mit genau dieser Szene beginnt die Präsentation des Buches. Schon während sich Christian Vogel, der gemeinsam mit Sonja Nökel den Band herausgegeben hat, auf den Weg zum Pult macht, um den Eröffnungsvortrag zu halten, beschreibt die Schauspielerin Katharina Müller vom Deutschen Theater Göttingen jede seiner Gesten. Ihr Metakommentar macht aufs unterhaltsamste deutlich, wovon das Buch handelt: der performativen Herstellung von Wissenschaftler*innen im Porträt in seinen historischen wie gegenwärtigen Formen.

Von Gelehrten im Talar, arrangiert als Ahnengalerie, über Kupferstiche, Gemälde, Scherenschnitte, Cartes des Visites und Karikaturen bis hin zu aktuellen Plakaten und Social Media-Kanälen reicht das Spektrum, das in der Ausstellung „Face the Fact. Wissenschaftlichkeit im Porträt“ aufgefächert wurde. Die Ausstellung, die vom 27. September 2018 bis 3. März 2019 in der Kunstsammlung der Universität Göttingen zu sehen war (zur Rezension der Autorin), stellt die Vorarbeit zu diesem Band dar. Sie wurde von einer Vortragsreihe flankiert, die zusammen mit zahlreichen weiteren Essays, Eingang in die Publikation fand.

Wissenschaft und Theater

Weil der wissenschaftliche Auftritt eine enge Nähe zur Bühne aufweist, wurde das Veranstaltungsformat in Kooperation mit dem Deutschen Theater entwickelt und umgesetzt. Für die szenische Einrichtung zeichnete Johanna Schwung verantwortlich, die dafür verschiedene Elemente auf inspirierenden Weise zusammenbrachte. Bereits beim Betreten der Veranstaltungsräume ist die Schauspielerin Katharina Müller auf einem Sockel inmitten der Sammlung zu sehen. Wie eine lebende Gipsfigur setzt sie die weißen Körper der Gipsfiguren und einzelne Gesten in Szene, begleitet von einer Audio-Collage aus Zitaten des Buches und der Projektion von Porträts.

Inszenierte Gelehrsamkeit.

Müller verrät typisch akademische Verhaltens- und Sprechweisen und sensibilisiert das Publikum für die nun folgenden Lesungen. Mit schauspielerischer Qualität und souveräner Betonung werden sie zu einem besonderen Vergnügen. Zwischen jeder Präsentation werden vom Theater produzierte kurze Videoclips gezeigt, in denen Wissenschaftscoach Susanne Maier-Hofer dem Publikum nicht ganz ernst gemeinte Tipps zur Selbstvermarktung gibt. Angesichts der Tatsache, dass diese Formen der Selbstdarstellung für eine erfolgreiche Karriere unabdingbar und für so manche(n) harte und aufwendige Arbeit sind, kommt der Aufruf erfrischend daher. Zumal sich der Appell der Schauspielerin selbst nicht an die Regeln der Kunst hält, sondern vielmehr die – normalerweise entfernten – Versprecher, Ausrutscher und deplatzierten Gesten exponiert. Das Lachen darüber macht gewissermaßen den Weg frei.

Der Kustos der Sammlung, Dr. Daniel Graepler.

Die Reden

Zu hören ist Spannendes, beispielsweise von Ruth Finckh über das 1780 entstandene Porträt der gelehrten Dichterin Philippine Gatterer, in dem die zur damaligen Zeit geltenden Grenzen für das weibliche Geschlecht im Gemälde zunächst überschritten, um im darauffolgenden Stich – welcher aufgrund seiner medialen Eigenschaften weitaus größere Verbreitung erlangte – sorgsam wieder zurückgeholt zu werden. Oder von Daniel Graepler über das Porträt von Karl Otfried Müller, das 1830 entstand und Müller mit den entsprechenden Anleihen und Requisiten kunstvoll als Archäologen inszeniert.

Karsten Heck über den Mathematiker Carl Friedrich Gauß.

Wir erfahren vom Witz in einer Karikatur auf Carl Friedrich Gauß, der sich erst durch die ungemein schlaue wissenschaftliche Rekonstruktion und wortgewandte Lesung seines Autors Karsten Heck erschließt. Und schließlich liest Sonja Nökel – stellvertretend für Mario Schulze – seinen Essay über die Inszenierung des Windkanalingenieurs Carl Wieselsberger, der im Selbstversuch und Kampf gegen den Wind seine Professionalität und Männlichkeit unter Beweis stellt.

Resumee

Die Beiträge machen große Lust auf mehr und der im Wallstein Verlag erschienene Band ist aufs Wärmste zu empfehlen. Besonders aber hat der Abend dazu angeregt, das gängige Vortrags- und Präsentationsformat im akademischen Betrieb zu hinterfragen und vielleicht sogar zu verändern. Denn solch mutige Versuche mit offenem Ende müssen letztlich auch ein Stück Kontrolle sowohl über die Formen der Darstellung als auch über die Inhalte an andere Akteure abgegeben. Das in diesem Fall Inhalt und Form zusammenfielen, war nicht nur eine glückliche Fügung, sondern auch eine überaus gelungene Inszenierung.

Das Buch

Vogel, Christian / Nökel, Sonja (Hg.): Gesichter der Wissenschaft. Repräsentanz und Performanz von Gelehrten, 284 S., 111 z. T. farb. Abb., brosch., 18,5 x 27,0, ISBN 978-3-8353-3553-0, 24,90 €, Göttingen: Wallstein Verlag 2019.

Die Publikation wurde gefördert durch die Stiftung Niedersachsen.

Zur virtuellen Ausstellung „Face the Fact“ in 360°-Ansichten: facethefact.gbv.de

Fotos: Martin Liebetruth

Zur Autorin: Dr. Daniela Döring ist wissenschaftliche Koordinatorin und Postdoktorandin am Forschungskolleg „Wissen | Ausstellenбанки сделать рефинансирование“.