Unsere Sonderausstellung „Tiny unpredictable material objects“ begibt sich auf die Suche nach den historischen Wurzeln zweier Pflanzen – und lässt diese winzigen unvorhersehbaren materiellen Objekte, nämlich „Hudoo“ und „Brotfrucht“, ihre Geschichte erzählen.
Die Geburtsstunde der Botanik
Die Geschichte zahlreicher Wissenschaften, auch die der Botanik, ist eng verbunden mit kolonialer Ambition, Expansion und Ausbeutung: Auf den „Entdeckungsfahrten“ James Cooks im 18. Jahrhundert erstellten die ihn begleitenden Naturforscher nicht nur Karten der befahrenen Gebiete, sondern sammelten und dokumentierten auch Pflanzen der lokalen Flora. In den botanischen Zentren Europas diskutierte man über die bestmögliche ökonomische Nutzung der Gewächse und wetteiferte um die erstmalige Beschreibung ‚neuer‘ Pflanzenarten durch westliche Wissenschaftler. Dabei trat das lokale Wissen, auf welchem die Debatten aufbauten, im europäischen Diskurs immer mehr in den Schatten: So wurde der auf Tahiti gebräuchliche Name „Hudoo“ ersetzt durch die Bezeichnung „Barringtonia speciosa J.R. Forst. & G. Forst.“.
Spuren Ozeaniens in Göttingen
Mit der Umbenennung der Pflanze ehrten die Naturforscher Johann Reinhold Forster und sein Sohn Georg Forster den britischen Anwalt und Naturforscher Daines Barrington, der half, James Cooks‘ zweite Reise in die ‚Südsee‘ (1772-1775) zu finanzieren. Gleichzeitig betonten Vater und Sohn innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft ihr Anrecht auf die Erstbeschreibung der Pflanze, die sie auf Tahiti ‚entdeckt‘ hatten – der lokalen Bevölkerung war sie damals allerdings schon lange vorher bekannt.
Bis heute ist die Cook/Forster-Sammlung in Göttingen und weit darüber hinaus ein Begriff, die große Zahl ethnographischer Objekte aus Ozeanien ein Aushängeschild der Universität. Ein weiteres koloniales ‚Erbstück‘ ist das Georg Forster Herbarium, dessen Pflanzen heute den Grundstein der Ausstellung „tiny unpredictable material objects“ bilden.
Eine Reise mit langem Epilog
Mehr als 250 Jahre liegt die Reise Cooks und der Forsters mittlerweile zurück – Das Jubiläum wühlt bei den Menschen in Ozeanien jahrhundertealte Erinnerungen an den Verlust von Land und Leben auf. Angesichts der Ankunft der nachgebauten „Endeavour“ – des Schiffs von Cook – kritisierten Aktivist*innen der Māori 2019, wie mit der Vergangenheit umgegangen wird, die so unterschiedlich erlebt wird: „Ihr seid an dem Ort, an dem eure Vorfahren unsere Leute ermordeten, nicht willkommen. Nehmt eure waka (dt.: Kanu) und verschwindet“. Proteste wie diese waren Anlass, sich auch in Göttingen im Rahmen des Projekts “Sammeln erforschen” kritisch mit der Entstehung des Georg Forster Herbariums auseinanderzusetzen. Für die Kuratorin Susanne Wernsing, die Forscher*innen der HTW Berlin und der Zentralen Kustodie der Universität Göttingen wurden die Pflanzen zu Zeugnissen kolonialer Expansion und westlicher Wissensproduktion in der frühen Botanik.
Tiny unpredictable material objects
Als Nasspräparate, zwischen Papier gepresst oder im Film: Im Freiraum des Forum Wissen nehmen Hudoo und Brotfrucht Besucher*innen noch bis zum 14. Oktober 2022 mit auf eine Reise durch die Vergangenheit: Auf dem Weg durch die Sonderausstellung zeigen sich nicht nur Verflechtungen zwischen Göttingen und verschiedenen Inseln im Pazifik, sondern auch der lange Nachhall von scheinbar Vergangenem in unserer eigenen Gegenwart. In diesem Sinne eröffnet „Tiny unpredictable material objects“ eine Vielzahl postkolonialer Perspektiven, die das Narrativ von der vermeintlich glorreichen europäischen „Entdeckung“ in Frage stellen.
Unter einer fingerdicken Schicht Staub verbirgt sich das Gesicht einer jungen Frau, deren Blick sehnsüchtig in die Ferne gerichtet ist. Während einer Haushaltsauflösung findet die Familie Winterberg ein Ölgemälde: Ein unerwarteter Schatz inmitten alter Möbel, Bücher und Teppiche.
Ein unerwarteter Schatz
Das Bild zieht alle in den Bann. Nach der Reinigung kommen mehr Details ans Tageslicht. Gekleidet ist die Frau in ein einfaches, wenn auch elegantes dunkelrotes Kleid. Die fast schwarzen Haare trägt sie seitlich über die Ohren hochgesteckt, dazu schlichte Ohrringe. Auf dem Klavier neben ihr ist ein Notenblatt von Chopins 24 Préludes, Op. 28 spielfertig aufgeschlagen. So gefühlsbetont wie Chopins Musik ist auch der Grundton des Gemäldes, welches abgerundet wird durch den Blick auf das Meer. Auf den Wellen segelt ein Schiff in die Ferne.
Wer ist die Unbekannte?
Die Münchnerin Julia Winterberg hat lange in der Bankenszene gearbeitet. Jetzt, im Ruhestand, bietet sich ihr endlich die Zeit, dem lang gehegten Familienrätsel auf die Spur zu kommen. Jahre nach der Haushaltsauflösung schaute die Unbekannte tagein tagaus ins Wohnzimmer von Winterbergs Eltern. Bereits ihre Mutter versuchte in den 70er-Jahren erfolglos herauszufinden, wen das Bild zeigt. Es kursierten lediglich Theorien, etwa dass es eine Pianistin sein könnte. Vielleicht sogar ein bekannter Name, wie Clara Schumann?
Auch Julia Winterberg lässt die Geschichte des Bildes einfach keine Ruhe. Im Zeitalter von Fernsehen, Internet und Handy stehen allerlei Wege offen – sich in diesem medialen Labyrinth zurechtzufinden braucht jedoch Zeit. 2016 führt es sie in die Fernsehsendung „Kunst + Krempel“, die zwar die Identität der „Dame am Klavier“ auch nicht aufschlüsseln kann, aber im Gemälde Stilmittel des 19. Jahrhunderts entdeckt. Eine Zeitgenossin Queen Victorias, die sich an den aristokratischen Idealen der Epoche orientiert. Der Moderator wagt die Vermutung, es könne sich sogar um die Königin handeln – die Ähnlichkeit von Kinnpartie und Augen ist nicht von der Hand zu weisen.
Dass es sich am Ende weder um Queen Victoria noch um Clara Schumann handelt, macht die Geschichte hinter dem Gemälde nicht weniger spannend. Seit kurzem können Neugierige das Bildnis der Dame in der Kunstsammlung der Universität Göttingen bewundern. Auf der zugehörigen Tafel erfahren wir auch ihren Namen: Zina Mansurova, eine russische Fürstin, porträtiert von Carl Oesterley.
Auf Spurensuche
In den Göttinger Sammlungen zeugen bis heute Handschriften, Skizzen und Gemälde vom Schaffen des Kunsthistorikers, der im 19. Jahrhundert an der Universität lehrte. Nebenbei gab er als Hannoveraner Hofmaler dem Adel ein Gesicht. Auf dem Gemälde Zina Mansurovas setzt Oesterley 1851 sein Monogramm in schwarzer Farbe auf den Fuß des Klaviers: Ein C umrundet durch ein O, auf dem dunklen Hintergrund nahezu unsichtbar. Als Julia Winterberg die Signatur über hundert Jahre später entdeckt, führt sie ihre Suche zu den Kunsthistoriker*innen der Universität Göttingen. Sie sind Oesterley-Expert*innen und können das Porträt der russischen Adligen Zina Mansurova zuordnen.
Die Mansurovs
Im Zarenreich ist die Familie der Mansurovs eine feste Größe in der russischen Aristokratie und unterhält enge Beziehungen zur orthodoxen Kirche. Zina Mansurova verbringt ihr Leben fernab ihrer Heimat in europäischen Metropolen, was auch Briefe der in Russland verbliebenen Mansurovs bezeugen. Ursache des familiären Exils ist die Heirat der Eltern – Cousin und Cousine – die der Moskauer Bischof Filaret Drozdov nach orthodoxem Recht ablehnte. Zina war demzufolge ein uneheliches Kind, eine Rückkehr nach Russland blieb ihr verwehrt. Ihr Vater trat in den diplomatischen Dienst für den russischen Zaren, der ihn mitsamt Familie nach Hannover (1847-1852) führte. Dort porträtierte Carl Oesterley zunächst ihn und später seine 21-jährige Tochter. Entsprechende Einträge entdeckt die Kunsthistorikerin Dr. Katja Mikolajczak im Inventarbuch Oesterleys.
Anders als die Mansurovs im Zarenreich, deren Schaffen durch politische und religiöse Ämter gut nachvollziehbar ist, findet sich Zina nur gelegentlich im Licht der Geschichte wieder. Ihre Position in der höfischen Gesellschaft ermöglichte ihr den Kontakt zu prominenten Zeitgenoss*innen, wie Nietzsche, den sie in späteren Lebensjahren über eine gemeinsame Freundin kennenlernte. Das Gemälde Oesterleys verewigt weitere Bruchstücke ihres Alltags zwischen Verpflichtungen und Vergnügungen der höheren Gesellschaft. Ihre Herzensangelegenheit mag das Klavierspiel gewesen sein. Oesterley präsentiert sie an einen Flügel gelehnt. Gefühl in die Préludes zu legen, lernte sie von Chopin höchstselbst, wie Nachforschungen an der Universität Göttingen nahelegen.
Ein Gemälde – viele Geschichten
Julia Winterberg hat sich entschieden, das Gemälde der Göttinger Kunstsammlung zu schenken. Nachdem es die Mansurovs bei Oesterley in Auftrag gaben, hat es einen langen Weg hinter sich, der aus heutiger Sicht nur in Bruchstücken rekonstruiert werden kann: In den Besitz der Familie Winterberg gelangte es vermutlich durch einen Vorfahren, der Kammerdiener eines englischen Diplomaten war und so potenziell Kontakt zum Hannoveraner Hof hatte. Von da an verloren sich die Spuren des Gemäldes, bis es die Winterbergs bei der Haushaltsauflösung vom Staub befreiten.
Mit der Schenkung sind Julia Winterbergs Nachforschungen zum Gemälde und zum Schicksal der jungen Adeligen nicht beendet. Sie möchte weiter auf der Fährte der Mansurovs wandeln und plant bereits Reisen nach Den Haag und nach Paris, wo sie auf dem sagenumwobenen Friedhof Père Lachaise die Gräber der Familienangehörigen suchen möchte. Was sie erwartet ist ungewiss. Sicher ist jedoch, dass am Horizont noch viele Geschichten darauf warten, entdeckt zu werden.
Eine Ausstellung wollte ich schon lange einmal gestalten. Als ich daher im September 2019 die Ankündigung lese, nutze ich die Gelegenheit: Recherche- und Ausstellungsseminar “Sehen, gehen, denken mit Geräten – Anthropotechniken in den Göttinger Universitätssammlungen”. Anthropotechniken? Damit hatte ich mich in meinem Archäologie- und Sprachwissenschaftsstudium noch nie befasst.
Mitte Oktober sitze ich in einem Seminarraum im Alten Auditorium der Uni Göttingen, zusammen mit Studierenden der Kunstgeschichte, Philosophie, Komparatistik, Kulturanthropologie und Soziologie – Geisteswissenschaftler*innen durch und durch. Auch unsere Dozentinnen – Prof. Dr. Margarete Vöhringer, Dr. des. Jana August und Ida Becker – haben alle einen kunsthistorischen oder kulturwissenschaftlichen Hintergrund. Daher wollen wir uns den naturwissenschaftlich-technischen Objekten zunächst nicht durch Recherche, sondern durch genaues Betrachten und Beobachten nähern. Vielleicht entwickeln wir aber auch Fragen, an die Technik-Expert*innen gar nicht denken?
Ein neuer Blickwinkel
Unser nächstes Treffen ist im Gebäude der Physik am Nordcampus, wo wir uns das Physicalische Cabinet anschauen wollen. Dr. Daniel Steil, Kustos der Sammlung, führt uns durch den Ausstellungsraum und zeigt uns sogar noch das Depot im Keller. Ein Objekt fällt mir besonders auf: ein Augenmodell. An ihm erklärten Dozenten des 18. Jahrhunderts einst die optischen Eigenschaften des Auges. Ob auch Georg Christoph Lichtenberg es für seine Göttinger Studierenden genutzt hat? Wir wissen es leider nicht.
Dennoch bin ich überrascht: Mit so einem Objekt habe ich nicht gerechnet. Dabei erscheint es mir im Nachhinein glasklar, dass es für das Verständnis und die Entwicklung von optischen Linsen hilfreich ist, das menschliche Auge zu verstehen.
Wir alle haben den Auftrag, uns ein Objekt aus einer der von uns besuchten Sammlungen auszusuchen, um es im Seminar und später in der Ausstellung vorzustellen. Als ich die vielen Teleskope sehe, erinnere ich mich an die historischen Instrumente in der Astrophysik. Von diesen hat mir eines besonders gut gefallen und ich wähle es schon jetzt als mein Objekt aus.
Zusammenarbeiten
Einige Wochen später verabreden wir uns mit Prof. Dr. Dirk Jaeger an der Fakultät für Forstwissenschaften und Waldökologie. Er spricht über forstwirtschaftliche Verfahrenstechnik. Es geht darum, Arbeitsprozesse nicht nur ressourceneffizient und ergonomisch, sondern auch sozial- und umweltverträglich zu gestalten. Ein besonderer Fokus liegt auf den Forstarbeiter*innen: Technische Fortschritte sollen ihnen die Arbeit erleichtern und ihren Schutz gleichzeitig erhöhen.
Was bedeutet das für unser Ausstellungsprojekt? Ich nehme auf alle Fälle mit, dass die Maschinen an die Anatomie des Menschen angepasst werden.
Als wir jedoch auf dem Weg in die Werkstatt an verschiedenen Kettensägenmodellen vorbeikommen, fällt auf, dass diese Auffassung eher modern ist. Während die neuen Modelle ergonomisch geformt sind, scheinen die älteren schwer und unhandlich zu sein. Offenbar ging es bei der Entwicklung von Maschinen nicht immer darum, diese möglichst passend für die Benutzer*innen zu bauen.
In der Werkstatt dann ist es sehr laut und ganz schön kalt. Im Gegensatz zu den Mitarbeiter*innen tragen wir keine Gehörschützer. Prof. Jaeger erklärt uns verschiedene Techniken und Arbeitsgeräte, die bei der forstwirtschaftlichen Arbeit eingesetzt werden. Schließlich nimmt er zwei Kettensägen und führt uns nach draußen. Ich weiß nicht, ob überhaupt jemand von uns schon einmal eine Kettensäge in der Hand gehalten hat. Wenn ich mir die anderen ansehe, denke ich: nein. Nach einer kurzen Einweisung darf jeder ein Gerät kurz halten und sogar starten. Zum Glück handelt es sich um neueste Modelle, sodass unsere Unsicherheit schnell verfliegt.
Gedanken verarbeiten
Zwei Wochen später treffen wir uns am Rechnermuseum der Gesellschaft für wissenschaftliche Datenverarbeitung Göttingen (GWDG) am Faßberg wieder und schauen uns verschiedene Rechnermodelle an. Es ist faszinierend zu sehen, wie schnell aus einer Maschine für mathematische Berechnungen ein Gerät entwickelt wurde, das heute unser Leben maßgeblich prägt. Daher habe ich das folgende Foto ausgewählt. Ahnen Sie, was daraus entstanden ist?
Auch hier sammeln wir praktische Erfahrungen und erleben die Maschinen hautnah: Gemeinsam mit Dr. Jens Kirchhoff vom Computer Cabinett Göttingen spielen wir Spacewar – eines der ersten Computerspiele! Und Kustos Simon Heider zeigt uns Objekte, die fremder nicht sein könnten: unzählige Kabel, Platinen, Schalter und Knöpfe – oft weiß ich nicht einmal, welche Art von Gerät ich vor mir habe.
In dieser Sammlung fällt es uns besonders schwer, die Maschinen zu verstehen. Sie übernehmen so viel abstraktere Aufgaben als die Objekte aus den anderen Sammlungen. Die Schnittstellen zu uns sind unsichtbar, gleichzeitig allgegenwärtig. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – finden zwei meiner Kommilitonen hier ihre Ausstellungsobjekte.
Verschwimmende Grenzen
Unsere letzte Exkursion führt uns in die Kunsthalle HGN nach Duderstadt: Kuratorin Maria Hauff und der ehemalige Ottobock-Mitarbeiter Lothar Milde zeigen uns die Ausstellung “Vom Start-up zum Weltmarktführer. 100 Jahre Ottobock“. Wir erfahren viel über die Geschichte der Prothetik, aber auch über die immer weiter zunehmende Akzeptanz von Prothesen in der Gesellschaft und den Stolz ihrer Träger*innen. Es ist spannend zu sehen, wie sich die Prothese immer mehr an den Menschen anpasst, diesen teilweise zu sportlichen Höchstleistungen bringt oder ihm, wie zum Beispiel mit dem Exoskelett, harte körperliche Arbeit erleichtert. Zurück in Göttingen philosophieren wir darüber, in wie weit der menschliche Körper durch Prothesen erweiterbar, wenn nicht sogar verbesserbar ist.
Objektanalysen
Ende Januar 2020 stellen wir uns endlich unsere Objekte gegenseitig vor: Zwar haben wir im Laufe des Seminars schon viel gelesen und bei Vorträgen und Führungen viel gelernt, zu unseren ausgewählten Objekten dürfen wir jedoch noch nicht in die Textrecherche einsteigen, sondern müssen uns ganz auf unsere eigenen Beobachtungen verlassen. Los geht es mit dem Rechnermuseum. Linus Rieß und Philip Flacke stellen spannende Fragen an ihre Objekte, deren überraschende Antworten sie später in der Ausstellung präsentieren werden.
Gesa Saloga beschreibt eine Handprothese, die wir beim Besuch in Duderstadt gesehen haben. Zwar wird dies nicht ihr Ausstellungsobjekt, aber es bringt sie auf die Idee, eine „Prothese“ auszustellen, die wahrscheinlich jeder schon einmal benutzt hat.
In der Sammlung Astrophysik hat Kustos Dr. Klaus Reinsch „mein“ Objekt extra für uns in eine Vitrine gelegt. Was auf den ersten Blick wie ein verzierter Holzkasten aussieht, hat es wortwörtlich „in sich“.
Auf ins Digitale
April 2020: Corona und ausstellen – wie soll das gehen? Wir beschließen, unsere physische Ausstellung zu einer digitalen werden zu lassen. Das heißt umplanen: Wie lassen sich unsere Objekte am besten online präsentieren? Wie soll die Webseite aussehen? Wer wird sie programmieren? Und wie sollen wir Fotos von den Objekten machen, wenn die Uni geschlossen ist?
Gemeinsam schauen wir uns digitale Ausstellungen an und nehmen so Ideen für unsere eigene mit. Nach zahlreichen Zoom-Meetings, Objektrecherchen, ersten Textentwürfen und sogenannten „Moodboards“ legen wir das Ausstellungskonzept fest. In der vorlesungsfreien Zeit entwickeln wir mit Unterstützung von Thomas Konradi, Webdesigner bei www.kulturerbe.niedersachsen.de, einen ersten Webseitenentwurf und beauftragen die Illustratorin Natalie Bleile. Beim Fotografieren der Objekte hilft uns die Zentrale Kustodie der Uni Göttingen mit ihrer Fotostation. Im September steigen wir ganz in die Textproduktion ein und bald geht es an den Feinschliff der Webseite.
Trotz Corona-Pandemie schicken wir wie gewohnt herausragende Objekte aus dem Göttinger Geowissenschaftlichen Museum auf Reisen. Es sind Leihgaben für Sonderausstellungen. So erreichten uns auch 2020 etliche Anfragen kleinerer und größerer Museen, die Interesse an Exponaten aus unserem Haus bekundeten. Vier aktuelle Beispiele möchte ich hier vorstellen.
Meteorite in Nebra
Im September 2020 gab es für mich noch einmal eine Ausnahme von der Maskenpflicht, da ich mit der Kuratorin der Ausstellung „Sternensucher – Von der Himmelsscheibe bis zur Rosetta-Mission“ im selben Haushalt wohne. Die Ausstellung in der Arche Nebra in Sachsen-Anhalt konnte Anfang Oktober sogar mit Publikum eröffnet werden. Aus Göttingen sind dort noch bis zum 30. September 2021 verschiedene Meteorite von Mond und Mars zu sehen sowie das größte noch erhaltene Fragment des am 15. April 1812 gefallenen Meteoriten von Erxleben. Hierbei handelt es sich um den ältesten beobachteten Meteoritenfall Norddeutschlands, von dem noch Material in Sammlungen erhalten ist. Als weiteres Göttinger Highlight gibt es eine anlässlich der Entdeckung des Planeten Uranus hergestellte, mehr als 200 Jahre alte Platinmedaille.
Saurierreste in Hannover
Zwei originale Dinosaurierzähne aus Niedersachsen, ein fast vollständiger Flugsaurier aus Süddeutschland und das Gipsmodell eines Tyrannosaurus rex wurden bereits im August 2020 von Kolleginnen aus der Naturkundeabteilung des Niedersächsischen Landesmuseums in Hannover für die Ausstellung „KinoSaurier. Zwischen Fantasie und Forschung“ abgeholt. Einer der beiden Dinozähne ist ein für Niedersachsen einzigartiger Fund eines iguanodontiden Pflanzenfressers. Bei dem anderen handelt es sich um einen Raubsaurierzahn der Gattung Torvosaurus. Er gehört zu den größten Dinosaurierzähnen, die jemals im norddeutschen Raum gefunden wurden.
Die für den 3. Dezember 2020 geplante Eröffnung konnte leider nicht stattfinden. Kurz danach wurde der Lockdown nochmals verschärft, und so blieb die fertige Ausstellung bis heute besucherlos. Aktuell hofft man am Ausstellungsort – und auch wir als Leihgeber tun dies natürlich – dass eine baldige Öffnung möglich sein wird.
Gemälde in Gotha
Zur Stiftung Schloss Friedenstein, ins thüringische Gotha, hätten zwei Gemälde des österreichischen Malers Franz Roubal (1889–1967) bereits im Mai 2020 gehen sollen. Roubal hatte in der 1930er-Jahren eigens für die Universität Göttingen mehrere Großgemälde von Meeresreptilien und Dinosauriern gefertigt, die in der Jura- und Kreidezeit auch in unserer Region heimisch waren. Ein Plateosaurier sowie die Darstellung von zwei Fischsauriern im Jurameer hatten es den Gothaer Kolleg*innen besonders angetan. Nachdem die Ausstellung „Saurier – Die Erfindung der Urzeit“ ins aktuelle Jahr verschoben wurde, erfolgte die Abholung per klimatisiertem Transport letztlich im Dezember. Auch dem neuen Eröffnungstermin, der für den 6. Februar 2021 angesetzt war, machte Corona einen Strich durch die Rechnung. Ab Mitte Mai geht es nun aber hoffentlich los.
Mineralien am Rammelsberg
Anfang April wurden Mineralien aus der Sammlung des Clausthaler Oberbergmeisters Georg Andreas Stelzner (1725–1802) für die Sonderausstellung „Reisen in den Schoß der Mutter Erde – Montantourismus im Harz“ im Museum und Besucherbergwerk Rammelsberg abgeholt. Die Stelzner’sche Mineraliensammlung befindet sich bereits seit 1782 im Besitz unserer Georgia Augusta. Sie bietet einen der bedeutendsten Zugänge zur Frühzeit des 1773 gegründeten Academischen Museums der Göttinger Universität und besteht zu großen Teilen aus Mineralen der Harzregion. Einige von ihnen sind nun in der Ausstellung zu sehen, die am 25. April 2021 eröffnet wurde.
Die Kolleg*innen und wir
Es ist schon sehr ungewohnt, den Kolleg*innen, die wir teilweise seit Jahrzehnten kennen, nur kurz mit obligatorischer Schutzmaske ein Päckchen mit den Leihgaben zu übergeben. Noch nicht einmal einen Kaffee können wir anbieten. Bei größeren Objekten, die von Kunstspeditionen abgeholt werden, stehen wir nun meterweit abseits und beobachten das Verpackungsgeschehen aus der Ferne. Früher hätten wir selbst mit Hand angelegt.
Wir in Göttingen hoffen darauf, dass es bald möglich sein wird, die Sammlungen und Museen der Universität im Rahmen der „Sonntagsspaziergänge“ wieder öffnen zu können. Und auch die nächsten Reisetermine einiger unserer Schätze haben wir schon im Blick.
Der Autor ist Kustos des Geowissenschaftlichen Museums und der dazugehörigen Sammlungen am Geowissenschaftlichen Zentrum der Universität Göttingen.банки взять кредит онлайн на карту
Sie haben mich von Anfang an fasziniert: die vier Kupferstiche der “Himmelsstürmer”, die mit unverkennbarer Leichtigkeit in luftleerem Raum zu schweben scheinen. In Wirklichkeit ist die Geschichte wesentlich tragischer, da die vier Antihelden (ganz individuell und moralisch wertvoll) in ihr Verderben stürzen.
Goltzius’ Meisterblätter in Freiburger Ausstellung
Der Künstler dieser Blätter ist Hendrick Goltzius (1558–1616), ein niederländischer Kupferstecher und Maler des Manierismus, der mit seinem technischen Können und seinen kreativen Bilderfindungen in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Ihm widmet das Augustinermuseum in Freiburg die Kabinettausstellung “Verwandlung der Welt – Meisterblätter von Hendrick Goltzius“. Sie ist von Samstag, 31. Oktober 2020, bis Sonntag, 31. Januar 2021, im Haus der Graphischen Sammlung zu sehen. Die Ausstellung ist in Kooperation mit der Kunstsammlung der Universität Göttingen entstanden – die erste Zusammenarbeit der beiden Institutionen. Aus Göttingen kommt der Großteil der insgesamt 66 Werke, die in Freiburg in sechs thematischen Ausstellungskapiteln gezeigt werden.
Wie erzähle ich die Geschichte?
Die Ausstellung ist etwas Besonderes, auch für mich ganz persönlich: Es ist das Projekt, das ich im Rahmen meines Volontariats am Museum betreut und von Anfang an begleitet habe. Im Studium habe ich mich viel mit Theorien des Museums beschäftigt und was es heißt, Ausstellungen zu machen und für wen. In der Praxis kommen dann noch ganz viele andere Fragen hinzu, beispielsweise: Wie viele Stellwände brauche ich, um alle Werke hängen zu können? Wo sollen diese platziert werden, damit ich die „Geschichte“ der Ausstellung sinnvoll erzählen kann und die Besucherinnen und Besucher die Bereiche problemlos durchlaufen können? Welche Inhalte will ich eigentlich vermitteln (und auf welche kann ich verzichten)?
Spurensuche in Göttingen
Zum Auftakt des Projekts bin ich im Juni letzten Jahres nach Göttingen gefahren, um die Kunstsammlung zu besuchen und mir die Werke vor Ort anzuschauen. Zusammen mit der Kustodin der Kunstsammlung, Anne-Katrin Sors, und den Studentinnen des Seminars (dort gab es ein Seminar zu Goltzius) haben wir die Blätter einzeln ausgelegt und überlegt, welche wir in der Ausstellung in Freiburg zeigen wollen. Das ist das Tolle an einer universitären Sammlung: dass Theorie und Praxis so eng miteinander verknüpft sind.
Die Kupferstiche von mythischen und christlichen “Helden”, die wir an diesem Tag im Juni auswählten, sind aber nicht nur für die Ausstellung gedacht. Für jede Sonderausstellung produzieren wir auch einen Katalog, der alle in der Ausstellung präsentierten Werke aufführt und im Detail bespricht. Die 22 Beiträge im Katalog sind dabei so individuell wie die Autorinnen und Autoren, die sie geschrieben haben. Letztendlich ist ein Katalog ja auch das, was bleibt, nachdem die Ausstellung abgebaut ist und die Werke wieder in ihren Mappen im Depot verstaut werden.
Herzlich willkommen!
Die Stellwände im Ausstellungsraum sind jetzt aufgebaut und alles ist blau gestrichen. Es hat beinah etwas Magisches, dieser Zeitpunkt kurz vor der Eröffnung. So viele Monate in der Planung, und jetzt ist es fast soweit! Ich gehe zurück zum Eingang der Ausstellung und schaue in den Raum: Das erste, was man jetzt sieht, sind die “Himmelsstürmer”, wie sie im freien Fall an der Wand schweben. Bühne frei für Hendrick Goltzius!
Weitere Informationen zur Ausstellung finden Sie hier.
Betritt man die Bernsteinausstellung, scheint es, als betrete man eine andere Welt. In schummrig-wohligem Licht wandelt man über dunkelbraunen Grund, während sich auf einem großen Banner an der Wand Säugetiere und Vögel im Dickicht von grünen Pflanzen und Bäumen tummeln.
Einige Überreste des Göttinger Literaturherbstes sind auch ein paar Wochen danach noch zu bestaunen. Zum Beispiel stolpert man beim Betreten der SUB Göttingen auf ein halbes Labyrinth aus Stellwänden
Das zeigt die neue Ausstellung „Zeit│Spiegel. Kinder- und Jugendliteratur der Jahre 1925 bis 1945“, die am Mittwoch, 30. Oktober 2019, um 18 Uhr in der Göttinger Paulinerkirche eröffnet wird. Unsere Schülerpraktikantin Sophia Juwien hat sich vorab für Sie umgesehen und mit dem Kurator der Ausstellung, Hartmut Hombrecher, gesprochen.
Lieber Herr Hombrecher, was können Besucherinnen und Besucher in der neuen Ausstellung erwarten?
Kinderbücher prägen oft ein Leben lang. Schon als Kind, wenn die Fantasie und Kreativität noch sehr stark sind, orientieren sich Kinder gerne an Figuren aus ihren Büchern und übernehmen Verhaltensweisen oder Charakterzüge. Unsere Ausstellung zeigt, wie Kinder- und Jugendliteratur aus der späten Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus die damalige Generation beeinflusst hat und bis heute unser Denken und Handeln prägt. Wir bieten also eine Reise in eine Zeit voller Umbrüche.
Warum haben Sie sich für dieses Thema entschieden?
Wir besitzen eine wertvolle Sammlung von Sigrid Wehner. Sie sammelte rund 18.000 Kinder- und Jugendbücher der Jahre 1925 bis 1945. Diese zeigen das individuelle Portrait einer Kindheit vor und während des Zweiten Weltkrieges; sie geben Einblick in die Vorstellungen und Werte ihrer Generation. Das Besondere an der Ausstellung ist, dass wir viele der Bücher, die sonst nicht öffentlich zugänglich sind, nun erstmals in ihrem politischen und sozialen Kontext präsentieren.
Welchen Einfluss hatten Kinderbücher im Nationalsozialismus?
Kinder sind bekanntlich sehr neugierig und wissensdurstig, aber auch oftmals leicht zu beeinflussen. Gerade zur Zeit des Nationalsozialismus wurden diese Eigenschaften im frühen Alter der Kinder genutzt, um sie weltanschaulich zu beeinflussen. Antisemitische Werke wie Johanna Haarers „Mutter, erzähl von Adolf Hitler!“ oder Kriegspropaganda wie Hans Mefferts „Sturzkampfflieger schlagen Bresche“ sind nur zwei Beispiele von vielen manipulativen Kinderbüchern dieser Zeit. Heutzutage wären solche Themen und Schreibweisen für uns kaum denkbar und Bücher dieser Art würden uns surreal erscheinen. Werte und Eigenschaften wie eigenständiges Denken oder kritisches Hinterfragen werden mittlerweile viel stärker gefördert.
Können Sie das noch ein wenig ausführen?
Im Nationalsozialismus gab es eine sehr stark gleichgeschaltete Kinder- und Jugendpolitik. Ab 1933 prägte die massiv verschärfte Zensur die Literatur, sodass viele Bücher nicht mehr publiziert werden durften. Viele Autoren mussten ins Exil gehen und haben versucht, außerhalb Deutschlands weiter zu schreiben. Aber an der Zensur im Innenland kamen sie nicht vorbei. Dort war die Bandbreite groß an propagandistischen Werken, antisemitistischen Hetzschriften für Kinder, Führerbüchern und noch vielem mehr.
In der Ausstellung zeigen Sie auch Bücher, die speziell für Mädchen oder für Jungen geschrieben wurden. Worin unterschied sich denn die Literatur?
Vor allem die Themen, aber auch die Gestaltung der Bücher machen die vorhandene Zweiteilung deutlich. Es gab häufig idealisierte Selbstformen, die in Büchern präsentiert wurden: Bei den Mädchen war dies die Rolle der Ehefrau und Mutter. Für die Jungen gab es häufig Rollenbilder, die soldatische Männlichkeit repräsentierten. Jedoch haben diese Formen der zweigeteilten Literatur ihre Anfänge schon im 18. Jahrhundert gefunden. Unsere Ausstellung steht damit nicht am Anfang der Entwicklung, aber auch noch nicht am Ende. Auch heute hat man noch Jungen- und Mädchenbücher, die unterschiedliche Rollenvorstellungen vermitteln.
Sollten wir nicht genau deswegen heutzutage darauf achten, mehr Wert auf Gleichberechtigung und Gerechtigkeit zu legen, gerade was die „typische Rolle von Mann und Frau“ betrifft? Anregungen dazu gibt die Ausstellung „Zeit│Spiegel“ auf alle Fälle. Aber auch in ihrer Art und Weise unterscheidet sie sich von anderen Ausstellungen.
Wir präsentieren nicht nur Bücher zum Anschauen. Wir wollen die Besucherinnen und Besucher auch zum Nachdenken anregen, zur Selbstreflexion. Sie sollen nicht nur von außen auf die Vitrinen schauen, sondern auch zurückblicken und sich selbst als Teil der Ausstellung und der gezeigten Debatten betrachten. Aus diesem Grund haben wir zum Beispiel Spiegel eingebaut. Sie zeigen, dass Prägungen generationenübergreifend noch bis heute andauern und verringern die Distanz zum historischen Objekt.
Lieber Herr Hombrecher, vielen Dank für das Gespräch!
Ein kleiner Rückblick in die Geschichte unserer Zeit gewünscht? Nachvollziehen, welche Werte, Ideen und Überzeugungen man damals hatte, von sich selbst sowie der Gesellschaft? Neugierig geworden? Dann sollten Sie sich diese Ausstellung unter keinen Umständen entgehen lassen. Vielleicht wird der eine oder andere der älteren Generation sogar Werke wiedererkennen? Keine Angst, sie ist nicht nur für alte Hasen oder Wissenschaftler gemacht, sondern auch für junge interessierte Menschen. Jeder kann einen Bezug zu dieser einflussreichen Zeit herstellen, sich selbst reflektieren und am Ende verstehen, wie die damalige Kindheit aussah und wodurch sie geprägt wurde.
Die Ausstellung ist noch bis zum 2. Februar 2020 in der Paulinerkirche am Papendiek 14 zu sehen. Geöffnet ist sie mittwochs bis freitags von 12 bis 18 Uhr und samstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr. Weitere Informationen gibt es unter www.uni-goettingen.de/zeitspiegel
In einer unscheinbaren Seitenstraße und beinahe versteckt hinter Bauzäunen – so präsentiert sich derzeit die Location der Ausstellung „Ihr wisst mehr, als ihr denkt!“. Sie ist im Günter-Grass-Archiv-Haus beheimatet, einem mehr als 700 Jahre alten Fachwerkhaus in der Göttinger Südstadt. Direkt nebenan entsteht derzeit ein hochmodernes Galeriehaus. Lehmfachwerk und modernste Bautechniken Tür an Tür – ein Widerspruch? Nein, definitiv nicht, wie sich im Verlauf des Ausstellungsbesuches zeigt.
Freiraum für Wissen
Wenn man den Ausstellungraum betritt, wechselt schlagartig die Stimmung: Sonnenlicht und Innenstadtlärm dringen nur gedämpft durch die gedrungenen Fachwerkfenster in den Innenraum des uralten Gebäudes. Aber trotz der Fachwerkbauweise läuft man nicht Gefahr, sich den Kopf an einer niedrigen Decke zu stoßen. Denn da das Haus im Zuge der Renovierung komplett entkernt wurde, bietet sich den Besucherinnen und Besuchern ein freier Blick bis in den Dachstuhl – und somit auch auf das Schmuckstück der Ausstellung: die eigens für „Ihr wisst mehr, als ihr denkt!“ angefertigte Orgel. Sie ist lediglich mit Stahlseilen an den Deckenbalken befestigt und scheint beinahe im Raum zu schweben. In Kombination mit der luftigen Raumhöhe und den leicht schummerigen Lichtverhältnissen verleiht sie den Ausstellungsräumlichkeiten eine fast sakrale Atmosphäre.
Wissende Objekte
Bevor man die Orgel genauer in Augenschein nehmen kann, wird man an einer Wand mit Vitrinen entlanggeleitet. Hier werden diverse Exponate präsentiert, die zum Großteil aus den Sammlungen der Universität Göttingen stammen. Es ist eine bunte Mischung: So sind zum Beispiel anatomische Modelle und Zeichnungen zu sehen – aber auch eine Reparaturanleitung für PKWs. Anhand der Objekte wird deutlich gemacht, wie Wissen produziert, gespeichert und weitergegeben wird. Als Wissen wird hierbei aber nicht nur das verstanden, was aus Büchern und an Schulen erlernt wird, sondern auch Erfahrungswissen, welches sich durch körperliche Tätigkeiten und Sinnesnutzung angeeignet wird. Die Ausstellung steht somit für einen breiter gefassten Wissensbegriff ein und soll zeigen, dass Wissen nicht nur an der Universität zu finden ist – auch und insbesondere in einer „Stadt, die Wissen schafft.“
Auch die Wand weiß mehr…
Neben dem Sehsinn können Besucherinnen und Besucher an der nächsten Ausstellungsstation auch ihre Ohren nutzen: Eine Audioinstallation mit Ausschnitten aus Interviews mit Handwerkern, die an der Renovierung des Günter-Grass-Archiv-Hauses beteiligt waren, bringt eine der Fachwerk-Lehmwände zum Sprechen. Zeitgleich verdeutlicht ein wandernder Lichtkegel, um welche Baustrukturelemente es in den Kommentaren jeweils geht. Beim Lehmbau handelt es sich nämlich um eine der beiden Handwerkstraditionen, mit denen sich das interdisziplinäre Forschungsprojekt OMAHETI (Objekte der Könner – Materialisierungen handwerklichen Erfahrungswissen zwischen Tradition und Innovation), welches hinter der Ausstellung steckt, hauptsächlich befasst hat.
Klingendes Können
Die Orgel repräsentiert das zweite Forschungsfeld des Projekts, den Orgelbau. Bei diesem Exponat ist es sogar ausdrücklich erwünscht auch den Tastsinn einzusetzen: Die Besucherinnen und Besucher werden aufgefordert, die Orgel mittels Knopfdrucks zum Leben zu erwecken – die Orgel beginnt dann automatisch mit einem heimeligen Rauschen „Luft zu holen“ – und selbst in die Tasten zu greifen.
Können macht stolz
Im zweiten Ausstellungsraum sprechen Handwerkerinnen und Handwerker in auf zwei Monitoren laufenden Kurzfilmen direkt zu den Besucherinnen und Besuchern. Sie zeigen stolz ihr Wissen und ihre Könnerschaft, berichten von ihren Erfahrungen und erzählen von ihren Wünschen und Hoffnungen für die Zukunft ihres Handwerks.
Übung macht den Meister
Texttafeln verdeutlichen anhand von Beispielen aus dem Lehm- und Orgelbau im Detail wie handwerkliches Können entsteht und welche Rolle dieses Können für Innovationen im Handwerk spielt: Durch kontinuierliches (Aus-)Üben sammeln Handwerkerinnen und Handwerker Erfahrungswissen und werden so mit der Zeit zu Könnerinnen und Könnern ihres Faches. Die Könnerschaft stellt wiederum die Basis für Innovationen dar. Diese entstehen in Handwerk meist eher unauffällig, in kleinen Schritten: nämlich beim Überwinden von im Alltagsbetrieb auftauchenden Problemen und Herausforderungen. Dann greifen Handwerkerinnen und Handwerker auf ihren reichen Erfahrungsschatz zurück, um mittels kleiner Veränderungen von Werkzeugen, Techniken und Materialien die Hürden zu überwinden. Die so entstandenen Innovationen stellen sich häufig als derart praktikabel und erfolgreich heraus, dass sie zum neuen Standard im Handwerksbetrieb werden.
Tradition und Moderne
Tradition und Innovation sind im Handwerk also keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Ohne den Rückgriff auf tradiertes und im Rahmen von Ausbildungsverhältnissen weitergegebenes Erfahrungswissen wären Neuerungen undenkbar. Tradition ist daher im Handwerk auch nicht als der in Stein gemeißelte Status Quo zu verstehen, sondern als ein sich ständig veränderndes und erneuerndes Konstrukt – so wie die Wände des Günter-Grass-Archiv-Hauses, an denen 700-jährige Stroh-Lehm Mischungen und modernster Trockenbaulehm gemeinsam ein beeindruckendes und funktionales Ensemble bilden.
Wo und Wann?
Die Ausstellung „Ihr wisst mehr als ihr denkt!“ im Günter-Grass-Archiv-Haus in der Düsteren Straße 6 in Göttingen ist noch bis zum 17. November 2019 jeden Samstag und Sonntag von 12 bis 16 Uhr geöffnet – der Eintritt ist frei.
Die Ausstellung „Rassismus. Die Erfindung der Menschenrassen“ im Dresdener Hygienemuseum ist am 6. Januar 2019 nach mehr als einem halben Jahr zu Ende gegangen. Melina Wießler spricht im Rahmen des Werkstattgesprächs „Ausstellen, was man nicht zeigen darf“ für den Forum Wissen-Blog mit Kuratorin Susanne Wernsing über Strategie und Resümee ihrer Arbeit.