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Fundstücke aus dem Göttinger Grass-Archiv

Als Katrin Wellnitz, Heinrich Detering und Christian Fieseler vom Günter Grass-Projekt der Uni Göttingen Ende 2018 unzählige Kisten vom Steidl Verlag erhielten, wurde das Öffnen jeder einzelnen zum Abenteuer: Die Pakete vom Steidl Verlag waren reich gefüllt mit Dokumenten zum Werk von Günter Grass, vor allem zur Zusammenarbeit des Autors mit seinem Göttinger Verleger.

Heinrich Detering mit dem Buchumschlag von »Zunge zeigen«, den Günter Grass selbst entworfen hat. Foto: Svenja Brand

Was eine Tischdecke über den Autor verrät

Unser Team entdeckte in den Kisten erwartete und erhoffte, aber auch gänzlich überraschende Fundstücke, die uns in ihrer Vielfalt mehr über Günter Grass als Autor, als Buchkünstler, aber auch als Mensch verrieten – und zwar in einer erlebbaren und anschaulichen Weise, die durch keine Biografie zu vermitteln ist. Eine unserer ersten Überraschungen fanden wir in einer Kiste mit Archivmaterial zu dem Gedicht-Bild-Band »Letzte Tänze« von 2003: Es handelt sich um eine weiße Tischdecke, die, reich beschrieben und mit Rotweinflecken bekleckst, Eindrücke von einem geselligen, ausgelassenen Abend mit Günter Grass vermittelt.

Ausschnitt der beschrifteten Tischdecke. Foto: Svenja Brand © Steidl Verlag

Anlässlich der Buchpremiere von »Letzte Tänze« waren bei der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2003 Grass-Freund*innen zusammengekommen, um mit dem Autor einen kulinarischen, literarischen und auch tänzerischen Abend zu verbringen, und die Tischdecke zeugt von dem heiteren Beisammensein. Verlagsmitarbeiter*innen und Übersetzer*innen verewigten sich ebenso auf der Tischdecke wie der Autor selbst: Er unterschrieb mit »Euer aller Eintänzer« und nahm damit nicht nur auf seinen neuen tänzerischen Text-Bild-Band Bezug, sondern auch auf den »schmissigen Tango«, mit dem er seine »Tanzparty« eröffnete.

Grass’ Signatur auf der Decke. Foto: Svenja Brand © Steidl Verlag

Die Geschichte der Tischdecke und des Tanzabends zeichnet Svenja Brand auf unserer Projektseite nach. Dabei wird deutlich, wie Grass Literatur und Geselligkeit miteinander zu verbinden wusste.

Svenja mit einem Werbeplakat zu Grass’ barocker Erzählung »Das Treffen in Telgte«. Foto: Katrin Wellnitz

Die Geschichte eines Abends

Diese rekonstruiert Max Rauser, und zwar am Beispiel einer samtenen Nobelpreistasche, in der wir einen längst vergessenen Goldschatz fanden: Schokoladentaler, die wie Nobelmedaillen geprägt sind. Sie lagen auf den Banketttischen aus, an denen 1999 die Vergabe des Nobelpreises gefeiert wurde – unter anderem von Günter Grass, seiner Familie und seinen Freund*innen.

Nobelpreistasche und “Goldschatz”. Foto: Max Rauser

Grass hatte den Nobelpreis bekommen, »[w]eil er in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet hat«. Das betrifft nicht nur seinen kleinen Blechtrommler und selbsternannten Däumling Oskar Matzerath, der manchmal wütend, manchmal kunstvoll trommelnd die Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verarbeitung in der Nachkriegszeit lebendig hält, sondern auch all die anderen Figuren aus Grass’ Werk, die nicht müde werden, Geschichte wiederzuerzählen.

Max Rauser bei der Arbeit im Grass-Archiv. Foto: Max Rauser

Grass zeichnete dabei viele Gesichter nach, die alle auf ihre Weise ein Stück Geschichte bewahren und dynamisch weitertragen. Ein so greifbarer Fund wie die in die Jahre gekommene, wahrscheinlich von allen längst vergessene Nobelpreistasche erinnert uns an den Menschen Grass, der mit seinen Figuren auf Weltentdeckung ging und der in seinen Schreibpausen gerne ausgelassene Feste feierte – nicht ohne die Kunst mitspeisen und mittanzen zu lassen. Max Rausers Beitrag »Blauer Samt und alte Schokolade« gibt weitere Einblicke in diesen besonderen Abend.

Das Team und sein Projekt

Seit 2018 hat sich einiges verändert. Die meisten Bestände sind katalogisiert und archiviert, sodass Wissenschaftler*innen in Zukunft damit arbeiten können. Das Archiv-Team hat sich zu einer Grass-Arbeitsstelle weiterentwickelt, die Grass’ Werk aus ganz verschiedenen Perspektiven erforscht. Wir haben gemeinsam ein Buch geschrieben, das Grass als Buchgestalter vorstellt und spannendes Archivmaterial erstmals zugänglich macht. Es soll voraussichtlich im Herbst 2022 erscheinen. Gleichzeitig entstehen Abschluss- und Qualifizierungsarbeiten zum Werk von Grass, die teilweise das Göttinger Archivmaterial mit in die Forschung einbeziehen. Auch haben wir das Archivmaterial im Rahmen von Seminaren in die Lehre integriert und Studierenden die Arbeit im Literaturarchiv vorgestellt. Dabei haben wir den Büchermacher Grass und sein Werk aus ganz neuer Perspektive kennengelernt.

Das Team der Göttinger Grass-Arbeitsstelle, Sommer 2020: Jacqueline Gwiasdowski, Corinna Beermann, Max Rauser (oben), Lisa Kunze, Katrin Wellnitz, Svenja Brand, Christian Fieseler (unten). Foto: Heinrich Detering

Und schließlich haben wir damit begonnen, spannende, uns ganz persönlich berührende, heitere Archiv-Fundstücke in Wort und Bild auf unserer Internetseite zu präsentieren. In regelmäßigen Abständen werden wir neue Fundstücke aus den Kisten nehmen und dort erstmals vorstellen. Neben all den Entdeckungen in ganz unterschiedlichen Formaten lassen sich auch textuelle Überraschungen ausmachen.

Mit Schreibmaschine und Blickwechsel

Von Grass korrigierte Druckfahnen oder Typoskripte erlauben uns textkritische Einblicke in den Entstehungsprozess seiner Werke: etwa gestrichene Wörter in einem Typoskript zu »Mein Jahrhundert« von 1999.

Von Grass korrigierte Seite aus einem nicht datierten Typoskript zu »Mein Jahrhundert«, Kopie des Originals aus der Sammlung des Lübecker Günter Grass-Hauses. © Günter und Ute Grass Stiftung

Passend zur Jahrhundertwende hat Grass für jedes Jahr von 1900 bis 1999 je einen Kurztext verfasst, der aus unterschiedlichen Perspektiven das 20. Jahrhundert würdigt. Ein dieses Jahrhundert durcheilendes Ich weist immer wieder auf den Autor selbst zurück, auf seine Erfahrungen und historischen, oft auch politischen Reflexionen.

Lisa Kunze bei der Analyse des Archivmaterials. Foto: Heinrich Detering

Projektmitarbeiterin Lisa Kunze hat im Archiv die Kopie einer korrigierten Typoskriptseite entdeckt und eine für das Buchkonzept wesentliche Streichung analysiert: So beobachtet sie, wie dem ersten Satz des Jahrhundertbuches im Entwurf das so bezeichnende, weil auf den in jeder Geschichte, in jeder Stimme anwesenden Autor verweisende »Ich« vorangestellt wird. Hier ist ihr Beitrag über die erste Typoskriptseite von »Mein Jahrhundert« zu lesen »Das vielzählige Ich«.

Düster, grotesk, verspielt – »Hundejahre«

Umschlag zur »Hundejahre«-Ausgabe von 1963, erschienen im Verlag Luchterhand. © Günter und Ute Grass Stiftung

Mitunter kann das Archivmaterial auch dabei helfen, bereits bekannte Werke noch einmal aus ganz neuem Blickwinkel zu beleuchten. Motiviert durch Einbandentwürfe zu Grass’ illustrierter Jubiläumsausgabe der »Hundejahre« von 2013 habe ich mich zum Beispiel mit der Konzeption dieses zuerst 1963 veröffentlichten Romans auseinandergesetzt. Schon der Romantext weist neben den düsteren, menetekelnden Grundtönen eine inhaltliche und formale Verspieltheit auf, die charakteristisch ist für Grass’ Werk –  nur dass sie in ihrem experimentellen Charakter besonders stark aus diesem monumentalen Roman hervorscheint.

Motivauswahl für das »Zweite Buch« der »Hundejahre«-Ausgabe von 2013. © Günter und Ute Grass Stiftung

Die Illustrationen, die Grass nach gut 50 Jahren für seine Jubiläumsausgabe anfertigte, sind dann ebenfalls mal düster und unheilvoll, mal grotesk und verspielt geraten. So lässt sich die weite, vielseitige und spannungsreiche Welt der »Hundejahre« auch in Bildern wiederlesen. Doch keine Illustration vermag dies wiederum so anschaulich und selbstreflexiv bildhaft zu machen wie die schon 1963 auf den Umschlag gesetzte Zeichnung von der schattenspielenden, einen Hundekopf mimenden Hand. So ›bühnenbegabt‹ ist diese Hand, dass die Betrachtenden eher einen Hund als eine Hand auf dem Umschlag zu sehen meinen. Dieses Motiv hat Grass für die Jubiläumsausgabe vielfach variiert und damit den inszenatorischen Charakter des Werks noch einmal auf ganz neue Weise unterstrichen.

Ich selbst auf der Suche nach Archivschätzen. Foto: Svenja Brand

Die Arbeit mit dem Archivmaterial ist vielseitig und inspiriert das Göttinger Grass-Team immer wieder zu neuen Forschungsideen. Die facettenreichen Interessen des Autors färben dabei auch auf unsere Forschung ab: Seine Liebe zur Literatur wird auf erfrischende Weise mit seiner Liebe zum Buch verbunden, sein Interesse an der Schrift mit seinem Interesse am Bild zusammengedacht. Das Archivmaterial motiviert dazu, über den Tellerrand zu schauen, neue Forschungsgebiete zu erschließen und die Göttinger Grass-Forschung neugierig und engagiert voranzutreiben.займ онлайн круглосуточно без отказа безработным

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Hinter den Kulissen Sammlung

Ein echter Linné im Göttinger Herbarium

Beim Digitalisieren des Herbariums stieß ich auf eine Pflanze, deren Etikett die Abkürzung „h.L.“ trug. Ich stutzte: Es war die Sammlung des Botanikers Jakob Friedrich Ehrhart, einer der letzten Schüler Carl von Linnés in Uppsala. Es ist bekannt, dass Linné ihm Herbarpflanzen geschenkt hatte.

Herbarbeleg mit originaler Handschrift und Barcode für das Digitalisat. Foto: Natascha Wagner.

„h.L.“ – Herbarium Linnaeus!

War das ein originaler Herbarbeleg des berühmten Botanikers? Ehrharts Biografie sprach dafür: Nach seiner Zeit in Uppsala wurde der Schweizer Direktor der Herrenhäuser Gärten in Hannover und mit seinem Tod gelangte sein Herbarium an die Göttinger Universität. In einem 1824 erschienenen Katalog des Ehrhart-Herbariums fand ich zudem die Abkürzung „h.L.“. Sie steht für „Herbarium Linnaeus“.

Ich in einem der acht Sammlungsräume des Göttinger Herbariums. Foto: Natascha Wagner.

Damit hatte ich einen ersten Hinweis, dass es sich tatsächlich um eine von Linné gesammelte und gepresste Pflanze handeln könnte. Ein weiterer Hinweis war, dass Linné in seiner einflussreichen Publikation Species Plantarum die Nummer „5“ für die Art Holcus odoratus, das duftende Mariengras, verwendete. Beides – Nummer und Artname – ist auf unserem Etikett vermerkt. Mittlerweile hat die Linnean Society bestätigt, dass es sich um eine von Linné gesammelte Pflanze handelt und die „5“ in Linnés Handschrift geschrieben ist.

Carl von Linné – Begründer der modernen biologischen Nomenklatur

Der Schwede Carl von Linné (1707–1778) ist sicherlich der bekannteste Botaniker aller Zeiten. Er wurde vor allem durch seine hierarchische Klassifikation von Pflanzen, Tieren und Mineralien sowie durch die Etablierung der binominalen Nomenklatur berühmt. Mit dieser neuen Art, Organismengruppen wissenschaftlich zu benennen, löste der Naturforscher die häufig langen Artbezeichnungen in lateinischer Sprache ab.

Mitten in diesem Faszikel verbirgt sich die Pflanze von Linné. Foto: Natascha Wagner.

Linné verwendete stattdessen nur zwei Wörter: Eins charakterisiert die Gattung, das andere die Art. Diese Methode erwies sich als äußerst praktikabel und stellt den Ausgangspunkt der modernen Nomenklatur dar. Linnés Herbarium befindet sich heute in den Sammlungsschränken der Linnean Society in London und nur wenige andere Institutionen besitzen Pflanzen, die Carl von Linné gesammelt hat. Seit kurzem gehört auch das Göttinger Herbarium zu diesem illustren Kreis.

Hier digitalisieren wir unsere Herbarbelege. Foto: Natascha Wagner.

Eine riesige Schatztruhe – das Göttinger Herbarium

Die etwa 800.000 getrockneten Pflanzen unserer Sammlung stammen aus der ganzen Welt. Die ältesten unter ihnen sind mit über 300 Jahren sogar älter als die Göttinger Universität. Genauso spannend wie die Pflanzen selbst sind auch die unzähligen Sammler*innen und ihre Reisen, auf denen sie die Pflanzen gesammelt haben. Daher haben wir im Herbarium zum Beispiel Pflanzen, die Alexander von Humboldt (1769–1859) in Ecuador am Fuße des Chimborazo sammelte – der damals als höchster Berg der Welt galt. Georg Forster (1754–1794) brachte viele neue Arten von der zweiten Südseereise James Cooks mit und Amalie Dietrich (1821–1891), eine der ersten Pflanzenjägerinnen, verdanken wir eine außergewöhnliche Sammlung australischer Moose.

Von Linné gesammelt: das duftende Mariengras. Foto: Marc Appelhans.

Gibt es noch mehr Linnés, Humboldts etc. in Göttingen?

Zurzeit haben wir weniger als 10 Prozent der Pflanzen im Göttinger Herbarium digitalisiert und datenbanklich erfasst. Daher kann es durchaus sein, dass weitere Herbarbelege von Linné oder anderen bedeutenden Botaniker*innen auftauchen. Wir finden zum Beispiel regelmäßig neue Typusbelege, also Pflanzen, die für die Erstbeschreibung einer neuen Art verwendet worden sind und die eine Art „Geburtsurkunde“ darstellen. Es gibt also noch viel zu tun und viel zu entdecken.

Der Autor ist Kustos des Göttinger Universitätsherbariums. лучшие банки где взять кредит потребительский

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Hinter den Kulissen Sammlung

Eine bunte Göttin – Farbrekonstruktion der Artemis aus Pompeji

Seit langem ist bekannt, dass die Antike nicht marmorweiß war, sondern dass Griechen und Römer ihre Statuen, Büsten und Reliefs bunt bemalten. Das gilt auch für die Göttin der Jagd, Artemis – oder Diana, wie die Römer sie nannten.

Die originale Artemis-Statue im Depot des Nationalmuseums in Neapel, Foto: Vinzenz Brinkmann.

Frischer Gipsabguss in der Werkstatt, Foto: Jorun Ruppel.

Ende 2017 erhielten wir am Archäologischen Institut die Anfrage, ob wir einen Gipsabguss der Artemis aus Pompeji für das Winckelmann-Museum in Stendal anfertigen könnten.  Für die anschließende Farbrekonstruktion waren die Frankfurter Archäologen Ulrike Koch-Brinkmann und ihr Mann Vinzenz Brinkmann verantwortlich, die auch hinter der berühmten Ausstellung Bunte Götter stecken. Für die Ausstellung hatten wir bereits eine Artemis aus Gips produziert, die eigens dafür angefertigte Form aus Silikon und Glasfaserlaminat lag noch vor. Wir sagten daher zu und entschlossen uns, gleich zwei neue Abgüsse herzustellen: einen für Stendal und den anderen für uns, die Göttinger Sammlung der Gipsabgüsse antiker Skulpturen.

Das Original

Wenn es darum geht, die Farben einer Skulptur zu rekonstruieren, kann man nicht einfach so drauflos malen, sondern benötigt Hinweise auf das ursprüngliche Aussehen. Als die Artemis-Statue vor 260 Jahren, am 19. Juli 1760, bei Ausgrabungen in Pompeji zum Vorschein kam, waren deutliche Spuren ihrer Bemalung sichtbar. Im Grabungstagebuch werden unter anderem hautfarbene Arme erwähnt – ein wichtiger Hinweis, denn bis heute ist die Fachwelt in der Frage “Hautfarbe ja oder nein” gespalten. Auch Johann Joachim Winckelmann, der die Statue eineinhalb Jahre später sah, äußerte sich in seinen Notizen zur Bemalung: “Die Haare der Hetrurischen Diana waren gelb gefärbet, auch die Augäpfel waren gemahlet. Der Riem des Köchers ist roth. Der äußere kleine Rand des Gewandes ist gelb und schmal, auf dem breiten rothen Streifen sind weiße Blumen gemahlet. An ihrem Diadema, welches rund um den Kopf gehet, sind 10 Rosen erhaben, roth gemahlet.” (Wiedergegeben von Oliver Primavesi in: Die Artemis von Pompeji und die Entdeckung der Farbigkeit griechischer Plastik, Stendal 2011).

Nicht nur die Bemalung der Artemis-Statue interessierte Winckelmann, sondern auch ihre stilistische Einordnung. Zunächst hielt er sie für ein etruskisches (= ‚hetrurisches‘) Werk, kam Jahre später aber zu dem Schluss, dass sie einen frühen griechischen Stil zeigte. Heutige Archäolog*innen sehen zwar ebenso frühgriechische Stilelemente der archaischen Kunst des 6. Jahrhunderts vor Christus, wissen jedoch, dass die Römer diesen Stil imitierten. So bezeichnen sie die Artemis als eine archaistische Skulptur und datieren sie in die Zeit von Kaiser Augustus. Typische Stilmerkmale sind die Zickzackfalten des Mantels oder die etwas steife Körperhaltung.

Die Suche nach den Farben

Mehr als 70 Jahre nach ihrer Auffindung erschien erstmals eine farbige Abbildung der Artemis aus Pompeji und zwar in einem Werk des französischen Archäologen Désiré Raoul Rochette, in dem er sich mit Farbe an griechischen und römischen Sakral- und Profanbauten befasste. Seinem Göttinger Kollegen Karl Otfried Müller, mit dem er regelmäßig korrespondierte, schickte er vorab einen kolorierten Probedruck des Stiches. Er zeigt Artemis mit goldgelbem Haar und einem weißen Gewand, dessen rosa und gelb bemalter Zickzacksaum mit einem floralen Ornament verziert ist. Auch Beschläge auf dem Köcherband sind zu erkennen.

Probedruck aus dem 1836 erschienenen Buch von Désiré Raoul Rochette (Nachlass K. O. Müller, Archäologisches Institut Göttingen, Foto: Stephan Eckardt). Bis zum 17. Januar 2021 wird der Stich in der Bunte Götter-Ausstellung im Liebieghaus in Frankfurt gezeigt.

Die letzte ausführliche Beschreibung der Bemalung stammt von 1888, verfasst vom Archäologen Franz Studniczka. Er hielt gezielt nach Farbresten Ausschau, die seine Vorgänger beschrieben und abgebildet hatten, und konnte auch noch Reste des Saum-Ornaments erkennen, die inzwischen vollständig verloren sind. Lediglich das Rosa und das Gelb des Saums sind heute noch auszumachen.

Der Zickzacksaum und das Diadem mit Resten der Bemalung, Fotos: Vinzenz Brinkmann.

Danach dauerte es 122 Jahre, bis Artemis zum ersten Mal mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht wurde: Es waren die Brinkmanns und der Restaurator Heinrich Piening, die mit Hilfe der UV-VIS-Absorptionsspektroskopie und verschiedenen fotografischen Techniken weitere Details über das Aussehen der römischen Statue herausfanden. Unter Infrarotlicht beispielsweise fluoreszieren auch kleinste Reste von Ägyptischblau, die mit bloßem Auge nicht wahrzunehmen sind. Zu finden war das Blau am Diadem, an den Armstützen und, wie jüngst entdeckt, auch an den Ärmeln. Zudem konnten widersprüchliche Angaben zur Farbe der Rosetten geklärt werden: Sie waren nicht nur rot, wie Winckelmann schrieb, oder gelb, wie auf Raoul Rochettes Stich, sondern beide Farben kamen vor und obendrein noch rosa.

Wie bunt soll unsere Artemis werden?

Egal, wie gut die Faktenlage ist – letztlich gibt es bei Farbrekonstruktionen immer einen gewissen Spielraum. Bedeutet ein kleiner Farbrest an einer einzelnen Stelle, dass die gesamte Fläche in ebendieser Farbe bemalt war? Wie sahen die obersten Farbschichten aus, die immer als erste verloren gehen? Hier ist Raum für Interpretationen, das heißt unsere Göttinger Artemis musste nicht wie eine Drillingsschwester der vorherigen Brinkmannschen Rekonstruktionen aussehen, die sich untereinander ebenfalls unterschieden.

Das 2018 bemalte Exemplar für das Winckelmann-Museum in Stendal, Foto: Vinzenz Brinkmann.

Die Brinkmannsche Farbrekonstruktion in der Bunte Götter-Ausstellung in Berlin im Sommer 2010, Foto: Jorun Ruppel.

 

Unser Ziel war es, mit unserer Farbrekonstruktion näher an die erste farbige Abbildung von 1836 mit ihrem Göttingen-Bezug heranzurücken, ohne jedoch eindeutige Analyseergebnisse zu ignorieren. Wie konnten wir das umsetzen? Wir machten drei Bereiche aus, die Spielraum für eigene Interpretationen boten.

Beschläge auf dem Köcherband

Auf dem Stich von 1836 sind sie zu sehen, doch niemand zuvor erwähnte sie, und Studniczka, der gezielt danach Ausschau hielt, konnte von ihnen keine Spuren finden. Hat Raoul Rochette Fehlstellen im Rot des Köcherbands, die sich in mehr als sieben Jahrzehnten durch Abblättern der Farbe gebildet hatten, für weiße Beschläge gehalten? Oder existierten sie tatsächlich, wurden jedoch von Winckelmann & Co. nicht erwähnt, weil sie Beschlagknöpfe einfach zu gewöhnlich fanden? In der griechischen Vasenmalerei sind sie dies jedenfalls. Wir entschieden uns schließlich dafür, weiße Beschläge aufzumalen – wegen des Göttingen-Bezugs des kolorierten Stiches und um einen neuen Vorschlag zu machen.

Unsere Rekonstruktion mit Beschlagknöpfen auf dem Köcherband, Foto: Jorun Ruppel.

Ausschnitt aus dem kolorierten Stich. Die Knöpfe auf dem Stich waren ursprünglich silbrig-weiß, doch hat sich die Farbe verändert, Foto: Stephan Eckardt.

Die Farbe der Ärmel

Der linke Ärmel mit roten Farbresten, Foto: Vinzenz Brinkmann.

Auf Detailfotos vom linken Ärmel des Untergewandes sind Reste roter Farbe zu erkennen, doch beschreibt keiner der frühen Beobachter die Ärmel als rot und auch auf dem Stich sind sie weiß. In unserer Rekonstruktion haben wir uns entschieden, die roten Farbreste (vorerst) zu ignorieren und die Ärmel, genau wie das übrige Untergewand und den Mantel, weiß zu bemalen. Richtig: Die Römer haben das Gewand nicht marmorsichtig belassen, sondern haben weiße Farbe aufgetragen. Auch das neu nachgewiesene Ägyptischblau haben wir erst einmal weggelassen, hier bedarf es noch weiterer Versuche.

Das Ornament

Es ist unstrittig, dass auf dem pinken Saum ein weißes Ornament aufgemalt war, doch wie soll man die Beschreibungen von Blumen, Schnirkeln, Palmetten oder Ranken mit palmettenartigen Gliedern und Studniczkas Zusatz, das Ornament habe sich wahrscheinlich in Längsrichtung entwickelt, interpretieren? Schließlich suchten wir in der zeitgenössischen römischen Wandmalerei nach einer Vorlage und fanden sie in der Villa Farnesina in Rom. Da uns das Ornament jedoch zu detailreich erschien, glichen wir es durch Weglassen einiger Elemente an das bei Raoul Rochette abgebildete Muster an.

Ornament im Cubiculum B der Villa Farnesina, Rom. Ausschnitt aus dem kolorierten Stich von Raoul Rochette und unser Vorschlag, Fotos: Stephan Eckardt, Jorun Ruppel. Das ursprünglich mit Weiß aufgemalte Ornament auf dem Stich hat sich über die Jahre dunkel verfärbt.

Nach insgesamt zwei Jahren Arbeit ist die Bemalung nun (weitgehend) abgeschlossen. Die bunte Artemis aus Pompeji kann im Rahmen der Sonntagsspaziergänge der Uni Göttingen immer sonntags von 11 bis 16 Uhr in der Sammlung der Gipsabgüsse antiker Skulpturen im Nikolausberger Weg 15 besucht werden.

Die Göttinger Farbrekonstruktion von 2018-20, Foto: Jorun Ruppel.

 

Gipsabguss: Nadja Kehe, Gesine Philipp, Julius Rammler, Jorun Ruppel

Bemalung: Jorun Ruppel, Nadja Kehe, Grundierung: tier. Leim, Calciumcarbonat

Farben: Naturpigmente

Bindemittel: Ei-Casein-Tempera

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Jorun Ruppel ist seit 2002 Restauratorin am Archäologischen Institut und in der Sammlung der Gipsabgüsse antiker Skulpturen.

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Sammlung

Ein Artefakt auf Umwegen

Manchmal stoßen Wissenschaftler*innen in den Unweiten der universitären Sammlungen auf rätselhafte Gegenstände, die bisher wenig Beachtung gefunden haben. Das mag daran liegen, dass niemand so richtig weiß, was damit anzufangen ist.

Klein, kompakt und kunstvoll verziert: die Teremok-Schatulle.

Im Falle dieses schmuckhaften und rätselhaften Gegenstandes entwickelte sich eine Zusammenarbeit verschiedener Forschungsbereiche, um der Spur des von Sammlung zu Sammlung gereichten Gegenstandes zu folgen. Angestoßen durch eine Reinigung begann die Reise des Artefaktes durch verschiedene Disziplinen der Wissenschaft, bei der Mitarbeiter*innen aus Ethnologie, Anthropologie, Ur- und Frühgeschichte, Geowissenschaften und Botanik zusammengekommen sind.

Etwas ganz Besonderes

Es ist klein, kompakt, kunstvoll verziert und wirkt wie ein eleganter Einrichtungsgegentand und ein sicherer Aufbewahrungsort für etwas ganz Besonderes – die Teremok-Schatulle, benannt nach ihrer Form. Mit dem oberen, walmdachähnlichen und dem unteren, rechteckigen Teil, sieht die Schatulle nämlich aus wie ein kleines Häuschen. „Teremok“ ist die russische Bezeichnung dafür. Aber wie ist dieser Gegenstand in die Anthropologie der Universität Göttingen gekommen? Über einige Umwege. Ich durfte sie mir anschauen und mit Dr. Birgit Großkopf vom Johann-Friedrich-Blumenbach-Institut für Historische Anthropologie und Humanökologie über die interdisziplinäre Forschung an diesem besonderen Fund sprechen.

Birgit Großkopf mit Schatulle in der Sammlung Historische Anthropologie.

 Zettelkarteien-Wirtschaft in der Ethno

Die Geschichte beginnt im Königlichen Academischen Museum der Universität Göttingen. Nach dem Tod des Kurators des Museums Johann Friederich Blumenbach im Jahre 1840, wurde die enzyklopädische Sammlung zu einer systematischen umstrukturiert. Dabei fiel den Mitarbeiter*innen ein kleines mysteriöses kastenförmiges Objekt in die Hände, zu dem nicht viele Informationen vorhanden waren. Die ethnologisch angelegte Zettelkartei aus den 1940er Jahren verwies mit „Af 2789“ auf Afrika als Herkunftsland. Eine hinzugefügte Bleistiftnotiz „Ägypten?“ konkretisierte nicht wirklich. Interessanterweise ordnete die Kartei den Gegenstand der Sachgruppe „Geräte“ zu, obwohl sich in der Schatulle menschliche Knochen befanden.

Das Kästchen vor der Säuberung.

Der Weg in die Anthropologie

Zusammen mit allen anderen ethnologisch-betitelten Sammlungsinhalten fand die Schatulle ein neues Zuhause im 1877 fertiggestellten Zoologisch-Zootomischen Institut in der Berliner Straße (das Gebäude, in dem aktuell das Forum Wissen entsteht). Hier wurde sie mit der Nummer 217 im sogenannten Rühlschen Zettelkatalog eingeordnet. Mit der Fertigstellung des Ethnologischen Instituts (damals Institut für Völkerkunde) 1936 zog das Kästchen um an den Theaterplatz. Als die Ethnolog*innen in den 1990ern alle Mumienteile an die Sammlung Historische Anthropologie übergaben, war darunter auch die Teremok-Schatulle. Und da wären wir nun.

Karteikarte im Rühlschen Zettelkatalog.

Eine Frage der Provenienz

Statt einer direkten Auskunft bietet die Rühlsche Kartei nur die Angabe „a.S.“, was auf eine Zugehörigkeit zur ganz alten Ethnologischen Sammlung anno 1886 hinweist. Deshalb und auch des Aussehens wegen vermuten die Forscher*innen, dass das hübsche Kästchen Teil einer der zahlreichen Schenkungen durch den Baron Thomas von Asch gewesen sein könnte, der als Generalstabsarzt unter Katharina der Großen gerne auf seine Promotionszeit in Göttingen zurückblickte und allerhand Bedeutsames an die Göttinger Sammlungen schickte. Dies konnte zwar bislang nicht bewiesen werden, doch Dr. Jens Schneeweiß, ehemaliger Kustos der Lehrsammlung Ur- und Frühgeschichte, verweist auf ähnliche Schatullen, welche in russischen Museen, wie dem Staatlichen Museum in Moskau und dem Russischen Museum in St. Petersburg, besichtigt werden können. Vermutlich wurde demnach auch das Göttinger Kästchen so wie die in Russland befindlichen Teremok-Schatullen in der Gegend von Velikij Ustjug hergestellt. Analysen zur Beschaffenheit des Kästchens, die unter anderem die Restauratorin der Klassischen Archäologie und Mitarbeiter*innen vom Geowissenschaftlichen Zentrum durchführten, bestätigen diese Einschätzung. In den Schriften und Notizen, die den Sendungen des Barons von Asch zugehörig sind, wird derweil weiterhin nach Erwähnungen eines kleinen schmuckhaften Kästchens mit menschlichem Inhalt Ausschau gehalten.

Die geöffnete Schatulle samt Inhalt.

Ein ungewöhnlicher Aufbewahrungsort

Aber nun zum eigenartigen Teil: den menschlichen Knochen. An sich sind Knochen ziemlich alltäglich in einer Anthropologischen Sammlung. Aber warum lagen sie in dieser Kiste, die ja wohl keinesfalls einem Sarg ähnelt? Handelt es sich womöglich um Reliquien? Schauen wir sie uns doch mal genauer an – beziehungsweise schauen wir, was die Anthropolog*innen rund um Dr. Birgit Großkopf herausgefunden haben: Es handelt sich um 18 mumifizierte Fußknochen einer ausgewachsenen Person unbestimmten Geschlechts und unbestimmter Herkunft. Mehr kann dazu momentan nicht gesagt werden, denn durch die DNA-Analyse konnte nicht eindeutig geklärt werden, welches Geschlecht die Mumie hat, und wo sie herkommt. „Theoretisch kann man anhand der Robustizität der Knochen das Geschlecht feststellen. Da wir aber die regionale Herkunft nicht kennen, können wir das nicht mit Sicherheit sagen, ob männlich oder weiblich“, begründet Birgit Großkopf.

Diese Knochen hat die Anthropologin Dr. Birgit Großkopf untersucht.

Rätsel der Zukunft

Sie und ihre Kolleg*innen erhoffen sich weitere Angaben zu regionaler Herkunft und Geschlecht des Fundstücks durch eine NGS-Analyse (next-generation sequencing), die derweil außer Haus durchgeführt wird. Sollten sich dadurch keine neuen Erkenntnisse ergeben, so bleibt das mysteriöse Kästchen weiterhin ein Rätsel bis eventuell zufällig ein historischer Kontext auftaucht, zum Beispiel  in der russischen Literatur oder durch einen vergleichbaren Fund anderswo. Bis dahin ruhen die Knochen in ihrem hübschen Kästchen, in einem klimatisierten Raum in der Mumienteilsammlung der Historischen Anthropologie.

Die bisherigen Ergebnisse der Untersuchungen wurden im Göttinger Jahrbuch 2018 des Göttinger Geschichtsverbandes publiziert. Alte Sammlungsobjekte – neue Erkenntnisse: Eine Teremok-Schatulle mit Mumienknochenвзять займ на карту без отказа под 0 процентов, von Birgit Grosskopf, Gudrun Bucher, Andreas Kronz, Jorun Rebekka Ruppel, Jens Schneeweiss, Lyudmila Shumilovskikh und Nicole Zornhagen.

Fotos: Meike Hartmann

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Ausstellung

Ihr wisst mehr, als ihr denkt! – Wissenschaft trifft Handwerk

In einer unscheinbaren Seitenstraße und beinahe versteckt hinter Bauzäunen – so präsentiert sich derzeit die Location der Ausstellung „Ihr wisst mehr, als ihr denkt!“. Sie ist im Günter-Grass-Archiv-Haus beheimatet, einem mehr als 700 Jahre alten Fachwerkhaus in der Göttinger Südstadt. Direkt nebenan entsteht derzeit ein hochmodernes Galeriehaus. Lehmfachwerk und modernste Bautechniken Tür an Tür – ein Widerspruch? Nein, definitiv nicht, wie sich im Verlauf des Ausstellungsbesuches zeigt.

Das Günter-Grass-Archiv-Haus beherbergt die Ausstellung „Ihr wisst mehr, als ihr denkt!“ (Foto: Jan Vetter)

Freiraum für Wissen

Wenn man den Ausstellungraum betritt, wechselt schlagartig die Stimmung: Sonnenlicht und Innenstadtlärm dringen nur gedämpft durch die gedrungenen Fachwerkfenster in den Innenraum des uralten Gebäudes. Aber trotz der Fachwerkbauweise läuft man nicht Gefahr, sich den Kopf an einer niedrigen Decke zu stoßen. Denn da das Haus im Zuge der Renovierung komplett entkernt wurde, bietet sich den Besucherinnen und Besuchern ein freier Blick bis in den Dachstuhl – und somit auch auf das Schmuckstück der Ausstellung: die eigens für „Ihr wisst mehr, als ihr denkt!“ angefertigte Orgel. Sie ist lediglich mit Stahlseilen an den Deckenbalken befestigt und scheint beinahe im Raum zu schweben. In Kombination mit der luftigen Raumhöhe und den leicht schummerigen Lichtverhältnissen verleiht sie den Ausstellungsräumlichkeiten eine fast sakrale Atmosphäre.

Die Orgel im offenen Dachstuhl (Foto: Benjamin W. Schulze)

Wissende Objekte

Bevor man die Orgel genauer in Augenschein nehmen kann, wird man an einer Wand mit Vitrinen entlanggeleitet. Hier werden diverse Exponate präsentiert, die zum Großteil aus den Sammlungen der Universität Göttingen stammen. Es ist eine bunte Mischung: So sind zum Beispiel anatomische Modelle und Zeichnungen zu sehen – aber auch eine Reparaturanleitung für PKWs. Anhand der Objekte wird deutlich gemacht, wie Wissen produziert, gespeichert und weitergegeben wird. Als Wissen wird hierbei aber nicht nur das verstanden, was aus Büchern und an Schulen erlernt wird, sondern auch Erfahrungswissen, welches sich durch körperliche Tätigkeiten und Sinnesnutzung angeeignet wird. Die Ausstellung steht somit für einen breiter gefassten Wissensbegriff ein und soll zeigen, dass Wissen nicht nur an der Universität zu finden ist – auch und insbesondere in einer „Stadt, die Wissen schafft.“

Besonderes Augenmerk wird auf die Bedeutung der Sinne beim Wissenserwerb gelegt – zum Beispiel den Tastsinn. (Foto: Jan Vetter)

Auch die Wand weiß mehr…

Neben dem Sehsinn können Besucherinnen und Besucher an der nächsten Ausstellungsstation auch ihre Ohren nutzen: Eine Audioinstallation mit Ausschnitten aus Interviews mit Handwerkern, die an der Renovierung des Günter-Grass-Archiv-Hauses beteiligt waren, bringt eine der Fachwerk-Lehmwände zum Sprechen. Zeitgleich verdeutlicht ein wandernder Lichtkegel, um welche Baustrukturelemente es in den Kommentaren jeweils geht. Beim Lehmbau handelt es sich nämlich um eine der beiden Handwerkstraditionen, mit denen sich das interdisziplinäre Forschungsprojekt OMAHETI (Objekte der Könner – Materialisierungen handwerklichen Erfahrungswissen zwischen Tradition und Innovation), welches hinter der Ausstellung steckt, hauptsächlich befasst hat.

Eine Wand mit viel(en) Geschichte(n) (Foto: Jan Vetter)

Klingendes Können

Die Orgel repräsentiert das zweite Forschungsfeld des Projekts, den Orgelbau. Bei diesem Exponat ist es sogar ausdrücklich erwünscht auch den Tastsinn einzusetzen: Die Besucherinnen und Besucher werden aufgefordert, die Orgel mittels Knopfdrucks zum Leben zu erwecken – die Orgel beginnt dann automatisch mit einem heimeligen Rauschen „Luft zu holen“ – und selbst in die Tasten zu greifen.

Die Orgel lädt zum Ausprobieren des eigenen Tast- und Hörsinns ein (Foto: Wiebken Nagel)

Können macht stolz

Im zweiten Ausstellungsraum sprechen Handwerkerinnen und Handwerker in auf zwei Monitoren laufenden Kurzfilmen direkt zu den Besucherinnen und Besuchern. Sie zeigen stolz ihr Wissen und ihre Könnerschaft, berichten von ihren Erfahrungen und erzählen von ihren Wünschen und Hoffnungen für die Zukunft ihres Handwerks.

In zwei Kurzfilmen reden Handwerkerinnen und Handwerker über ihre Könnerschaft (Foto: Julian Schima)

Übung macht den Meister

Texttafeln verdeutlichen anhand von Beispielen aus dem Lehm- und Orgelbau im Detail wie handwerkliches Können entsteht und welche Rolle dieses Können für Innovationen im Handwerk spielt: Durch kontinuierliches (Aus-)Üben sammeln Handwerkerinnen und Handwerker Erfahrungswissen und werden so mit der Zeit zu Könnerinnen und Könnern ihres Faches. Die Könnerschaft stellt wiederum die Basis für Innovationen dar. Diese entstehen in Handwerk meist eher unauffällig, in kleinen Schritten: nämlich beim Überwinden von im Alltagsbetrieb auftauchenden Problemen und Herausforderungen. Dann greifen Handwerkerinnen und Handwerker auf ihren reichen Erfahrungsschatz zurück, um mittels kleiner Veränderungen von Werkzeugen, Techniken und Materialien die Hürden zu überwinden. Die so entstandenen Innovationen stellen sich häufig als derart praktikabel und erfolgreich heraus, dass sie zum neuen Standard im Handwerksbetrieb werden.

Dieser Dichtring war eine Innovation im Orgelbau – entstanden aus einem Kunststoff, der eigentlich für Turnmatten gedacht war (Foto: Wiebken Nagel)

Tradition und Moderne

Tradition und Innovation sind im Handwerk also keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Ohne den Rückgriff auf tradiertes und im Rahmen von Ausbildungsverhältnissen weitergegebenes Erfahrungswissen wären Neuerungen undenkbar. Tradition ist daher im Handwerk auch nicht als der in Stein gemeißelte Status Quo zu verstehen, sondern als ein sich ständig veränderndes und erneuerndes Konstrukt – so wie die Wände des Günter-Grass-Archiv-Hauses, an denen 700-jährige Stroh-Lehm Mischungen und modernster Trockenbaulehm gemeinsam ein beeindruckendes und funktionales Ensemble bilden.

Wo und Wann?

Die Ausstellung „Ihr wisst mehr als ihr denkt!“ im Günter-Grass-Archiv-Haus in der Düsteren Straße 6 in Göttingen ist noch bis zum 17. November 2019 jeden Samstag und Sonntag von 12 bis 16 Uhr geöffnet – der Eintritt ist frei.

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Die Schwesterausstellung „Handwerkswissen: Kulturerbe mit Zukunft“ tourt noch bis Dezember durch deutsche Handwerkskammern: Vom 12.8.2019 bis 14.9.2019 wird sie in der Galerie Handwerk in Koblenz zu sehen sein, danach ist sie vom 18.9.2019 bis 18.10.2019 im Bildungszentrum der Handwerkskammer Hildesheim zu Gast. Weiterführende Informationen und die weiteren Ausstellungstermine kann man gerne von den Projektmitarbeitenden Dorothee Hemme und Benjamin W. Schulzeвзять онлайн займ на карту erfragen.