Unsere Sonderausstellung „Tiny unpredictable material objects“ begibt sich auf die Suche nach den historischen Wurzeln zweier Pflanzen – und lässt diese winzigen unvorhersehbaren materiellen Objekte, nämlich „Hudoo“ und „Brotfrucht“, ihre Geschichte erzählen.
Die Geburtsstunde der Botanik
Die Geschichte zahlreicher Wissenschaften, auch die der Botanik, ist eng verbunden mit kolonialer Ambition, Expansion und Ausbeutung: Auf den „Entdeckungsfahrten“ James Cooks im 18. Jahrhundert erstellten die ihn begleitenden Naturforscher nicht nur Karten der befahrenen Gebiete, sondern sammelten und dokumentierten auch Pflanzen der lokalen Flora. In den botanischen Zentren Europas diskutierte man über die bestmögliche ökonomische Nutzung der Gewächse und wetteiferte um die erstmalige Beschreibung ‚neuer‘ Pflanzenarten durch westliche Wissenschaftler. Dabei trat das lokale Wissen, auf welchem die Debatten aufbauten, im europäischen Diskurs immer mehr in den Schatten: So wurde der auf Tahiti gebräuchliche Name „Hudoo“ ersetzt durch die Bezeichnung „Barringtonia speciosa J.R. Forst. & G. Forst.“.
Spuren Ozeaniens in Göttingen
Mit der Umbenennung der Pflanze ehrten die Naturforscher Johann Reinhold Forster und sein Sohn Georg Forster den britischen Anwalt und Naturforscher Daines Barrington, der half, James Cooks‘ zweite Reise in die ‚Südsee‘ (1772-1775) zu finanzieren. Gleichzeitig betonten Vater und Sohn innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft ihr Anrecht auf die Erstbeschreibung der Pflanze, die sie auf Tahiti ‚entdeckt‘ hatten – der lokalen Bevölkerung war sie damals allerdings schon lange vorher bekannt.
Bis heute ist die Cook/Forster-Sammlung in Göttingen und weit darüber hinaus ein Begriff, die große Zahl ethnographischer Objekte aus Ozeanien ein Aushängeschild der Universität. Ein weiteres koloniales ‚Erbstück‘ ist das Georg Forster Herbarium, dessen Pflanzen heute den Grundstein der Ausstellung „tiny unpredictable material objects“ bilden.
Eine Reise mit langem Epilog
Mehr als 250 Jahre liegt die Reise Cooks und der Forsters mittlerweile zurück – Das Jubiläum wühlt bei den Menschen in Ozeanien jahrhundertealte Erinnerungen an den Verlust von Land und Leben auf. Angesichts der Ankunft der nachgebauten „Endeavour“ – des Schiffs von Cook – kritisierten Aktivist*innen der Māori 2019, wie mit der Vergangenheit umgegangen wird, die so unterschiedlich erlebt wird: „Ihr seid an dem Ort, an dem eure Vorfahren unsere Leute ermordeten, nicht willkommen. Nehmt eure waka (dt.: Kanu) und verschwindet“. Proteste wie diese waren Anlass, sich auch in Göttingen im Rahmen des Projekts “Sammeln erforschen” kritisch mit der Entstehung des Georg Forster Herbariums auseinanderzusetzen. Für die Kuratorin Susanne Wernsing, die Forscher*innen der HTW Berlin und der Zentralen Kustodie der Universität Göttingen wurden die Pflanzen zu Zeugnissen kolonialer Expansion und westlicher Wissensproduktion in der frühen Botanik.
Tiny unpredictable material objects
Als Nasspräparate, zwischen Papier gepresst oder im Film: Im Freiraum des Forum Wissen nehmen Hudoo und Brotfrucht Besucher*innen noch bis zum 14. Oktober 2022 mit auf eine Reise durch die Vergangenheit: Auf dem Weg durch die Sonderausstellung zeigen sich nicht nur Verflechtungen zwischen Göttingen und verschiedenen Inseln im Pazifik, sondern auch der lange Nachhall von scheinbar Vergangenem in unserer eigenen Gegenwart. In diesem Sinne eröffnet „Tiny unpredictable material objects“ eine Vielzahl postkolonialer Perspektiven, die das Narrativ von der vermeintlich glorreichen europäischen „Entdeckung“ in Frage stellen.
Pfingsten ist es soweit! Wir öffnen unsere Türen und laden alle ganz herzlich ins Forum Wissen der Uni Göttingen ein.
Um 10 Uhr geht es am Samstag los: Wer möchte, kann dann die Räume des Wissens entdecken. Unsere Kommunikator*innen freuen sich schon darauf, sie den Besucher*innen zu zeigen.
Zur Eröffnung gibt es die Chance, die Köpfe hinter der Ausstellung kennenzulernen und einen Blick ins Making-Of des neuen Göttinger Wissensmuseum zu werfen. Alle Infos zu unserem Programm finden sich auch auf unserer Website www.forum-wissen.de
Übrigens: Angehörige der Uni Göttingen können bereits am Freitag (3.6.) kommen. Für alle anderen sind wir ab Samstag – und sogar Pfingstmontag – von 10 bis 18 Uhr da. Der Eintritt ist frei! 🤗
Sie haben mich von Anfang an fasziniert: die vier Kupferstiche der “Himmelsstürmer”, die mit unverkennbarer Leichtigkeit in luftleerem Raum zu schweben scheinen. In Wirklichkeit ist die Geschichte wesentlich tragischer, da die vier Antihelden (ganz individuell und moralisch wertvoll) in ihr Verderben stürzen.
Goltzius’ Meisterblätter in Freiburger Ausstellung
Der Künstler dieser Blätter ist Hendrick Goltzius (1558–1616), ein niederländischer Kupferstecher und Maler des Manierismus, der mit seinem technischen Können und seinen kreativen Bilderfindungen in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Ihm widmet das Augustinermuseum in Freiburg die Kabinettausstellung “Verwandlung der Welt – Meisterblätter von Hendrick Goltzius“. Sie ist von Samstag, 31. Oktober 2020, bis Sonntag, 31. Januar 2021, im Haus der Graphischen Sammlung zu sehen. Die Ausstellung ist in Kooperation mit der Kunstsammlung der Universität Göttingen entstanden – die erste Zusammenarbeit der beiden Institutionen. Aus Göttingen kommt der Großteil der insgesamt 66 Werke, die in Freiburg in sechs thematischen Ausstellungskapiteln gezeigt werden.
Wie erzähle ich die Geschichte?
Die Ausstellung ist etwas Besonderes, auch für mich ganz persönlich: Es ist das Projekt, das ich im Rahmen meines Volontariats am Museum betreut und von Anfang an begleitet habe. Im Studium habe ich mich viel mit Theorien des Museums beschäftigt und was es heißt, Ausstellungen zu machen und für wen. In der Praxis kommen dann noch ganz viele andere Fragen hinzu, beispielsweise: Wie viele Stellwände brauche ich, um alle Werke hängen zu können? Wo sollen diese platziert werden, damit ich die „Geschichte“ der Ausstellung sinnvoll erzählen kann und die Besucherinnen und Besucher die Bereiche problemlos durchlaufen können? Welche Inhalte will ich eigentlich vermitteln (und auf welche kann ich verzichten)?
Spurensuche in Göttingen
Zum Auftakt des Projekts bin ich im Juni letzten Jahres nach Göttingen gefahren, um die Kunstsammlung zu besuchen und mir die Werke vor Ort anzuschauen. Zusammen mit der Kustodin der Kunstsammlung, Anne-Katrin Sors, und den Studentinnen des Seminars (dort gab es ein Seminar zu Goltzius) haben wir die Blätter einzeln ausgelegt und überlegt, welche wir in der Ausstellung in Freiburg zeigen wollen. Das ist das Tolle an einer universitären Sammlung: dass Theorie und Praxis so eng miteinander verknüpft sind.
Die Kupferstiche von mythischen und christlichen “Helden”, die wir an diesem Tag im Juni auswählten, sind aber nicht nur für die Ausstellung gedacht. Für jede Sonderausstellung produzieren wir auch einen Katalog, der alle in der Ausstellung präsentierten Werke aufführt und im Detail bespricht. Die 22 Beiträge im Katalog sind dabei so individuell wie die Autorinnen und Autoren, die sie geschrieben haben. Letztendlich ist ein Katalog ja auch das, was bleibt, nachdem die Ausstellung abgebaut ist und die Werke wieder in ihren Mappen im Depot verstaut werden.
Herzlich willkommen!
Die Stellwände im Ausstellungsraum sind jetzt aufgebaut und alles ist blau gestrichen. Es hat beinah etwas Magisches, dieser Zeitpunkt kurz vor der Eröffnung. So viele Monate in der Planung, und jetzt ist es fast soweit! Ich gehe zurück zum Eingang der Ausstellung und schaue in den Raum: Das erste, was man jetzt sieht, sind die “Himmelsstürmer”, wie sie im freien Fall an der Wand schweben. Bühne frei für Hendrick Goltzius!
Weitere Informationen zur Ausstellung finden Sie hier.
Der Countdown läuft: In gut zwölf Monaten soll das Forum Wissen eröffnet werden. Auf der letzten Bergetappe gilt es noch einige Weichen zu stellen. Daher ist es für die Universität besonders wichtig, den Externen Wissenschaftlichen Beirat zu befragen. Die regulär im Frühjahr des Jahres stattfindende Sitzung hatten wir coronabedingt absagen müssen.
Der Beirat wurde 2013 gegründet, um unsere Arbeit und insbesondere die Konzeption und Umsetzung des Forum Wissen zu begleiten und zu unterstützen. Ihm gehören 15 Personen aus dem In- und Ausland an: allesamt erfahrene Wissenschaftler*innen, Direktor*innen großer Museen, Expert*innen der Konservierungswissenschaft und leitende Personen aus dem Stiftungssektor. Ihre Erfahrungen, Ideen, Ratschläge und kritischen Anmerkungen sind immer wieder hilfreich und willkommen. Je näher das Eröffnungsdatum des Forum Wissen rückt, desto wichtiger ist es nun, alles rechtzeitig zu bedenken und punktgenau zu realisieren.
Wie in Corona-Zeiten die vielfältige Unterstützung einzuholen?
Ivan Gaskell, Leiter der Focus Gallery am Bard Graduate Center in New York und Michael Conforti, ehemaliger Direktor des Clark Art Institutes in Massachusetts, dürfen aufgrund internationaler Covid-19-Reisebeschränkungen nicht anreisen – ebenso wenig David Gaimster, Direktor des Nationalmuseums in Auckland/Neuseeland und Steph Sholten, Direktor des Hunterian Museums der Universität Glasgow. Auch Marika Hedin, Direktorin der größten schwedischen Stiftung, zieht es aus Infektionsschutzgründen vor, auf Auslandsreisen zu verzichten. Dennoch tagt der Beirat am Montag, 28. September 2020, in Göttingen. Mit dabei: Bernhard Graf, ehemaliger Direktor des Institutes für Museumsforschung, Patricia Rahemipour, Direktorin des Instituts für Museumsforschung, und Anja Schaluschke, Direktorin des Museums für Kommunikation in Berlin. Auch Helmut Trischler, Leiter der Abteilung Forschung am Deutschen Museum in München, und Thomas Thiemeyer, Direktor des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen, reisen an.
Hybrid und mit Pioniergeist
Die Beiratssitzung findet als Hybridsitzung statt: Das bedeutet, dass wir im großen Vortragsraum der SUB Göttingen, im Alfred-Hessel-Saal, an weit voneinander entfernt stehenden Tischen sitzen – sechs Beiratsmitglieder, der Präsident der Universität, Reinhard Jahn, sowie das Team der Zentralen Kustodie. Auf der großen Leinwand im Hintergrund schalten sich sechs Beiratsmitglieder hinzu, die aus New York, Washington, Stockholm, Glasgow und Frankfurt und Kassel digital an der Sitzung teilnehmen. Die Fenster stehen während der ganzen Besprechung offen und alle halten wegen der Corona-Pandemie den erforderlichen Abstand. Sobald wir den zugewiesenen Platz eingenommen haben, dürfen wir die Masken abnehmen.
Es hat einiges an technischer Vorbereitung dazugehört, um einerseits alle Vorkehrungen zum Infektionsschutz zu treffen und andererseits dafür zu sorgen, dass die Qualität der Diskussion möglichst genauso gut ist wie vor Corona-Zeiten. Damals traf sich der Beirat einmal im Jahr in Göttingen. Die Stimmen der Kolleg*innen, die weit entfernt an ihren Bildschirmen sitzen, sind über Raumlautsprecher zu hören. Die Teilnehmer*innen der Präsenzsitzung sprechen in Mikrofone – so sind ihre Worte in Göttingen ebenso gut zu hören wie in New York. „Die Qualität der Ton- und Bildübertragung war hervorragend. Wir konnten uns ohne technische Unterbrechungen mit den Inhalten auseinandersetzen“, so Anja Schaluschke.
Solange uns die Pandemie im Griff hat, sammeln wir Erfahrungen, wie wir derartige Sitzungen technisch optimieren können. Für den Moment entwickeln die Mitarbeiter*innen der Multimediaabteilung der Universität nicht nur technische Lösungen, sondern auch Pioniergeist.
Brücke zwischen Universität und Gesellschaft
Einen großen Vorteil hatten diejenigen, die an der Präsenzsitzung teilnahmen: Vorab wurden sie nämlich von der Direktorin des Forum Wissen, Marie Luisa Allemeyer, durch die Baustelle geführt. Sie konnten sehen und ganz physisch erleben, wie weit das Projekt mittlerweile fortgeschritten ist. „Ich bin wirklich sehr beeindruckt. Was hier in Göttingen entsteht, ist einzigartig!“, so Bernhard Graf, Sprecher des Beirats. „Dem Forum Wissen gelingt es, eine Brücke zwischen der universitätsinternen Wissenscommunity und der außeruniversitären Wissensgesellschaft zu bilden. Es ist somit ein Tor zu den diversen Interessen einer sich wandelnden Gesellschaft. Ich freue mich sehr auf die Eröffnung.“ Thomas Thiemeyer ergänzt: „Was hier in Göttingen entsteht, ist genau das richtige Projekt zur richtigen Zeit. Machen Sie es und machen sie es so, wie Sie es geplant haben!”
Nachdem sich die angereisten Gäste schon wieder auf den Weg gemacht haben, löst sich langsam unsere Spannung. Vor Corona-Zeiten waren die Beiratssitzungen auch immer ein Ereignis, das viel Vorbereitung forderte und auf das große Aufmerksamkeit gerichtet war. Die Sorge, ob die Technik auch funktioniert und nicht plötzlich „Funkstille“ zwischen dem Vortragssaal der SUB und den Büros in New York, Stockholm, Glasgow, Frankfurt und Kassel herrscht, war uns anzumerken. Umso erleichterter waren alle, diese Herausforderung gut gemeistert zu haben.
Die Autorin ist Referentin für kulturelle Kooperationen in der Zentralen Kustodie der Universität Göttingen.
Seit langem ist bekannt, dass die Antike nicht marmorweiß war, sondern dass Griechen und Römer ihre Statuen, Büsten und Reliefs bunt bemalten. Das gilt auch für die Göttin der Jagd, Artemis – oder Diana, wie die Römer sie nannten.
Ende 2017 erhielten wir am Archäologischen Institut die Anfrage, ob wir einen Gipsabguss der Artemis aus Pompeji für das Winckelmann-Museum in Stendal anfertigen könnten. Für die anschließende Farbrekonstruktion waren die Frankfurter Archäologen Ulrike Koch-Brinkmann und ihr Mann Vinzenz Brinkmann verantwortlich, die auch hinter der berühmten Ausstellung Bunte Götterstecken. Für die Ausstellung hatten wir bereits eine Artemis aus Gips produziert, die eigens dafür angefertigte Form aus Silikon und Glasfaserlaminat lag noch vor. Wir sagten daher zu und entschlossen uns, gleich zwei neue Abgüsse herzustellen: einen für Stendal und den anderen für uns, die Göttinger Sammlung der Gipsabgüsse antiker Skulpturen.
Das Original
Wenn es darum geht, die Farben einer Skulptur zu rekonstruieren, kann man nicht einfach so drauflos malen, sondern benötigt Hinweise auf das ursprüngliche Aussehen. Als die Artemis-Statue vor 260 Jahren, am 19. Juli 1760, bei Ausgrabungen in Pompeji zum Vorschein kam, waren deutliche Spuren ihrer Bemalung sichtbar. Im Grabungstagebuch werden unter anderem hautfarbene Arme erwähnt – ein wichtiger Hinweis, denn bis heute ist die Fachwelt in der Frage “Hautfarbe ja oder nein” gespalten. Auch Johann Joachim Winckelmann, der die Statue eineinhalb Jahre später sah, äußerte sich in seinen Notizen zur Bemalung: “Die Haare der Hetrurischen Diana waren gelb gefärbet, auch die Augäpfel waren gemahlet. Der Riem des Köchers ist roth. Der äußere kleine Rand des Gewandes ist gelb und schmal, auf dem breiten rothen Streifen sind weiße Blumen gemahlet. An ihrem Diadema, welches rund um den Kopf gehet, sind 10 Rosen erhaben, roth gemahlet.” (Wiedergegeben von Oliver Primavesi in: Die Artemis von Pompeji und die Entdeckung der Farbigkeit griechischer Plastik, Stendal 2011).
Nicht nur die Bemalung der Artemis-Statue interessierte Winckelmann, sondern auch ihre stilistische Einordnung. Zunächst hielt er sie für ein etruskisches (= ‚hetrurisches‘) Werk, kam Jahre später aber zu dem Schluss, dass sie einen frühen griechischen Stil zeigte. Heutige Archäolog*innen sehen zwar ebenso frühgriechische Stilelemente der archaischen Kunst des 6. Jahrhunderts vor Christus, wissen jedoch, dass die Römer diesen Stil imitierten. So bezeichnen sie die Artemis als eine archaistische Skulptur und datieren sie in die Zeit von Kaiser Augustus. Typische Stilmerkmale sind die Zickzackfalten des Mantels oder die etwas steife Körperhaltung.
Die Suche nach den Farben
Mehr als 70 Jahre nach ihrer Auffindung erschien erstmals eine farbige Abbildung der Artemis aus Pompeji und zwar in einem Werk des französischen Archäologen Désiré Raoul Rochette, in dem er sich mit Farbe an griechischen und römischen Sakral- und Profanbauten befasste. Seinem Göttinger Kollegen Karl Otfried Müller, mit dem er regelmäßig korrespondierte, schickte er vorab einen kolorierten Probedruck des Stiches. Er zeigt Artemis mit goldgelbem Haar und einem weißen Gewand, dessen rosa und gelb bemalter Zickzacksaum mit einem floralen Ornament verziert ist. Auch Beschläge auf dem Köcherband sind zu erkennen.
Die letzte ausführliche Beschreibung der Bemalung stammt von 1888, verfasst vom Archäologen Franz Studniczka. Er hielt gezielt nach Farbresten Ausschau, die seine Vorgänger beschrieben und abgebildet hatten, und konnte auch noch Reste des Saum-Ornaments erkennen, die inzwischen vollständig verloren sind. Lediglich das Rosa und das Gelb des Saums sind heute noch auszumachen.
Der Zickzacksaum und das Diadem mit Resten der Bemalung, Fotos: Vinzenz Brinkmann.
Danach dauerte es 122 Jahre, bis Artemis zum ersten Mal mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht wurde: Es waren die Brinkmanns und der Restaurator Heinrich Piening, die mit Hilfe der UV-VIS-Absorptionsspektroskopie und verschiedenen fotografischen Techniken weitere Details über das Aussehen der römischen Statue herausfanden. Unter Infrarotlicht beispielsweise fluoreszieren auch kleinste Reste von Ägyptischblau, die mit bloßem Auge nicht wahrzunehmen sind. Zu finden war das Blau am Diadem, an den Armstützen und, wie jüngst entdeckt, auch an den Ärmeln. Zudem konnten widersprüchliche Angaben zur Farbe der Rosetten geklärt werden: Sie waren nicht nur rot, wie Winckelmann schrieb, oder gelb, wie auf Raoul Rochettes Stich, sondern beide Farben kamen vor und obendrein noch rosa.
Wie bunt soll unsere Artemis werden?
Egal, wie gut die Faktenlage ist – letztlich gibt es bei Farbrekonstruktionen immer einen gewissen Spielraum. Bedeutet ein kleiner Farbrest an einer einzelnen Stelle, dass die gesamte Fläche in ebendieser Farbe bemalt war? Wie sahen die obersten Farbschichten aus, die immer als erste verloren gehen? Hier ist Raum für Interpretationen, das heißt unsere Göttinger Artemis musste nicht wie eine Drillingsschwester der vorherigen Brinkmannschen Rekonstruktionen aussehen, die sich untereinander ebenfalls unterschieden.
Unser Ziel war es, mit unserer Farbrekonstruktion näher an die erste farbige Abbildung von 1836 mit ihrem Göttingen-Bezug heranzurücken, ohne jedoch eindeutige Analyseergebnisse zu ignorieren. Wie konnten wir das umsetzen? Wir machten drei Bereiche aus, die Spielraum für eigene Interpretationen boten.
Beschläge auf dem Köcherband
Auf dem Stich von 1836 sind sie zu sehen, doch niemand zuvor erwähnte sie, und Studniczka, der gezielt danach Ausschau hielt, konnte von ihnen keine Spuren finden. Hat Raoul Rochette Fehlstellen im Rot des Köcherbands, die sich in mehr als sieben Jahrzehnten durch Abblättern der Farbe gebildet hatten, für weiße Beschläge gehalten? Oder existierten sie tatsächlich, wurden jedoch von Winckelmann & Co. nicht erwähnt, weil sie Beschlagknöpfe einfach zu gewöhnlich fanden? In der griechischen Vasenmalerei sind sie dies jedenfalls. Wir entschieden uns schließlich dafür, weiße Beschläge aufzumalen – wegen des Göttingen-Bezugs des kolorierten Stiches und um einen neuen Vorschlag zu machen.
Die Farbe der Ärmel
Auf Detailfotos vom linken Ärmel des Untergewandes sind Reste roter Farbe zu erkennen, doch beschreibt keiner der frühen Beobachter die Ärmel als rot und auch auf dem Stich sind sie weiß. In unserer Rekonstruktion haben wir uns entschieden, die roten Farbreste (vorerst) zu ignorieren und die Ärmel, genau wie das übrige Untergewand und den Mantel, weiß zu bemalen. Richtig: Die Römer haben das Gewand nicht marmorsichtig belassen, sondern haben weiße Farbe aufgetragen. Auch das neu nachgewiesene Ägyptischblau haben wir erst einmal weggelassen, hier bedarf es noch weiterer Versuche.
Das Ornament
Es ist unstrittig, dass auf dem pinken Saum ein weißes Ornament aufgemalt war, doch wie soll man die Beschreibungen von Blumen, Schnirkeln, Palmetten oder Ranken mit palmettenartigen Gliedern und Studniczkas Zusatz, das Ornament habe sich wahrscheinlich in Längsrichtung entwickelt, interpretieren? Schließlich suchten wir in der zeitgenössischen römischen Wandmalerei nach einer Vorlage und fanden sie in der Villa Farnesina in Rom. Da uns das Ornament jedoch zu detailreich erschien, glichen wir es durch Weglassen einiger Elemente an das bei Raoul Rochette abgebildete Muster an.
Ornament im Cubiculum B der Villa Farnesina, Rom. Ausschnitt aus dem kolorierten Stich von Raoul Rochette und unser Vorschlag, Fotos: Stephan Eckardt, Jorun Ruppel. Das ursprünglich mit Weiß aufgemalte Ornament auf dem Stich hat sich über die Jahre dunkel verfärbt.
Nach insgesamt zwei Jahren Arbeit ist die Bemalung nun (weitgehend) abgeschlossen. Die bunte Artemis aus Pompeji kann im Rahmen der Sonntagsspaziergänge der Uni Göttingen immer sonntags von 11 bis 16 Uhr in der Sammlung der Gipsabgüsse antiker Skulpturen im Nikolausberger Weg 15 besucht werden.
Gipsabguss: Nadja Kehe, Gesine Philipp, Julius Rammler, Jorun Ruppel
Soziale Rollen – und besonders Geschlechterrollen – begleiten uns im Alltag und sind gerade heute Thema eines vielschichtigen Diskurses. Ob ich mir jetzt auf YouTube Schminktutorials von schlanken Blondinen anschaue oder einen Liebesroman lese: Oft lassen sich Verhaltensmuster erkennen, die als besonders gut angesehen werden, oder eben als eher schlecht.
Genau das findet man auch schon in Mädchenromanen der wilhelminischen Kaiserzeit, zum Beispiel in “Nesthäkchen” von Else Ury. Wenn die Titelheldin dadurch negativ auffällt, dass sie zu wild und zu unordentlich ist, dann hängt das vor allem damit zusammen, dass sie sich nicht so benimmt, wie ein Mädchen es sollte.
Vom Trotzkopf zur perfekten Hausfrau
Dass ein Mädchen sich zuerst nicht so verhält, wie es ihrer Rolle entspricht, ist typisch für die ‚Backfischliteratur‘. Bei diesem Genre kommt oft ein wildes, ungezähmtes Mädchen in ein Internat. Dort soll sie zu einer perfekten, also normgetreuen, jungen Frau zu werden. Wenn sie es dann geschafft hat, dem Frauenbild ihrer Zeit zu entsprechen, begegnet sie einem Mann. Diesen Mann heiratet sie und ist für immer glückliche Mutter und Hausfrau.
Dasselbe müsste auch für die “Nesthäkchen”-Reihe gelten. Eigentlich. Anders als bei anderen Backfischromanen (zum Beispiel “Der Trotzkopf”) werden die Gattungsmerkmale hier jedoch zum Teil nicht beachtet. Es gibt viele emanzipatorische Tendenzen, obwohl die Reihe schon vor etwa hundert Jahren veröffentlicht wurde.
Annemarie ist anders
So ist Bildung wichtiger als gewöhnlich und Annemarie arbeitet sogar nach ihrer Hochzeit. Sie ist eben mehr als bloß eine (Haus-)Frau, die tut, was man ihr sagt. Gerade weil sie ihren eigenen Kopf hat, erscheint sie dem Leser oder der Leserin so sympathisch.
Vielleicht ist es gerade das, was dazu geführt hat, dass so viele Mädchen die Bücher gelesen und lieben gelernt haben. Bei unserer Ausstellung Zeit│Spiegel im letzten Semester erzählten uns viele Besucherinnen und Besucher, wie sehr sie die Bände mochten. Auch mir hat es Spaß gemacht, die Reihe zu lesen, da Annemarie so interessant und kreativ ist.
Die eigene Rolle hinterfragen
Mir wurde dabei aber bewusst, dass es Geschlechterrollen auch heute noch gibt. Natürlich beschwert sich heute – anders als im Roman – niemand, wenn wir ohne Hut auf die Straße gehen. Es gibt aber schon Dinge, die erwartet werden: Man denke an die eingangs erwähnten Zeitschriften und Videos für junge Mädchen. Wenn man “Nesthäkchen” liest, fallen vor dem Hintergrund der damaligen Geschlechterrollen auch die eigenen auf. Gerade diese Buchreihe eignet sich also, um sich mit sozialen Rollen auseinanderzusetzen, und das überzeitlich.
Die Autorin und ihr Schicksal
Trotz der Beliebtheit ihrer Bücher hatte Else Ury aber kein sorgenfreies Leben. Bei unserer Ausstellung fiel auf, dass nicht viele Besucherinnen und Besucher über die Biografie der Autorin Bescheid wussten. Sie war eine erfolgreiche Autorin, doch im Zuge des Nationalsozialismus erlebte sie als Jüdin Repression und Verfolgung in Deutschland. So wurden ihre Bücher verbrannt, sie durfte keine neuen Bücher mehr veröffentlichen, und ein Großteil ihrer Familie emigrierte oder floh aus Deutschland. Um für ihre kranke Mutter zu sorgen, blieb Else Ury in Deutschland – und wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Besonders diese Seite ihrer Biografie sollte nicht vergessen oder verschleiert werden. Dieser Meinung war auch Marianne Brentzel, die 1992 mit ihrem Buch “Nesthäkchen kommt ins KZ” auf diesen Umstand aufmerksam machte.
Unsere Sammlung
Sowohl die “Nesthäkchen”-Bücher als auch “Nesthäkchen kommt ins KZ” und “Der Trotzkopf” befinden sich in der Sammlung historischer Kinder- und Jugendliteratur. Sobald die Sammlungen wieder öffnen können, ist bei uns jeder willkommen, sich diese und noch viele andere Bücher anzuschauen und durchzulesen.
Jaqueline Stephan
Die Autorin studiert Deutsch und Philosophie und betreut die Sammlung historischer Kinder- und Jugendliteratur an der Universität Göttingen. Das Interview mit ihr über “Nesthäkchen, Else Ury und die Sammlung historischer Kinder- und Jugendliteratur” finden Sie hier.
Wie Wissenschaftler*innen sich selbst darstellen, beschreibt der neue Band „Gesichter der Wissenschaft. Repräsentanz und Performanz von Gelehrten im Porträt“. Daniela Döring hat – noch vor Corona – die Präsentation des Buches in der Sammlung der Gipsabgüsse antiker Skulpturen besucht.
Die Inszenierung
Der Wissenschaftler durchquert in lockerem Schritt den Raum, tritt an das Pult, stützt die Hände auf und wird größer, gewichtiger. Er räuspert sich. Sein Blick schweift über das zahlreich erschienene Publikum, das zu ihm aufsieht. Mit sicherer Stimme hebt er an zu sprechen, er begrüßt seine Zuhörenden und nach einer kleinen, bedeutungsschwangeren Pause, beginnt er seinen Vortrag mit einem Zitat eines allseits bekannten Wissenschaftlers.
Dieses Szenarium ist im Wissenschaftsbetrieb nur allzu bekannt. Wenngleich es in ganz unterschiedlichen Formen auftritt – etwa in Abhängigkeit von Herkunft oder Geschlecht –, gilt es für alle Statusgruppen, diesen traditionell männlich und bildungsbürgerlich konnotierten Habitus einzuüben, um die eigene wissenschaftliche Expertise, Autorität und Souveränität – im wahrsten Sinne des Wortes – zu verkörpern. Unzählige Male konnten wir diesem Schauspiel im universitären Alltag bereits beiwohnen, freilich ohne es genau zu sehen. Denn erst durch die Unsichtbarmachung entfaltet es seine volle Wirksamkeit.
Die Präsentation
Mit genau dieser Szene beginnt die Präsentation des Buches. Schon während sich Christian Vogel, der gemeinsam mit Sonja Nökel den Band herausgegeben hat, auf den Weg zum Pult macht, um den Eröffnungsvortrag zu halten, beschreibt die Schauspielerin Katharina Müller vom Deutschen Theater Göttingen jede seiner Gesten. Ihr Metakommentar macht aufs unterhaltsamste deutlich, wovon das Buch handelt: der performativen Herstellung von Wissenschaftler*innen im Porträt in seinen historischen wie gegenwärtigen Formen.
Von Gelehrten im Talar, arrangiert als Ahnengalerie, über Kupferstiche, Gemälde, Scherenschnitte, Cartes des Visites und Karikaturen bis hin zu aktuellen Plakaten und Social Media-Kanälen reicht das Spektrum, das in der Ausstellung „Face the Fact. Wissenschaftlichkeit im Porträt“ aufgefächert wurde. Die Ausstellung, die vom 27. September 2018 bis 3. März 2019 in der Kunstsammlung der Universität Göttingen zu sehen war (zur Rezension der Autorin), stellt die Vorarbeit zu diesem Band dar. Sie wurde von einer Vortragsreihe flankiert, die zusammen mit zahlreichen weiteren Essays, Eingang in die Publikation fand.
Wissenschaft und Theater
Weil der wissenschaftliche Auftritt eine enge Nähe zur Bühne aufweist, wurde das Veranstaltungsformat in Kooperation mit dem Deutschen Theater entwickelt und umgesetzt. Für die szenische Einrichtung zeichnete Johanna Schwung verantwortlich, die dafür verschiedene Elemente auf inspirierenden Weise zusammenbrachte. Bereits beim Betreten der Veranstaltungsräume ist die Schauspielerin Katharina Müller auf einem Sockel inmitten der Sammlung zu sehen. Wie eine lebende Gipsfigur setzt sie die weißen Körper der Gipsfiguren und einzelne Gesten in Szene, begleitet von einer Audio-Collage aus Zitaten des Buches und der Projektion von Porträts.
Müller verrät typisch akademische Verhaltens- und Sprechweisen und sensibilisiert das Publikum für die nun folgenden Lesungen. Mit schauspielerischer Qualität und souveräner Betonung werden sie zu einem besonderen Vergnügen. Zwischen jeder Präsentation werden vom Theater produzierte kurze Videoclips gezeigt, in denen Wissenschaftscoach Susanne Maier-Hofer dem Publikum nicht ganz ernst gemeinte Tipps zur Selbstvermarktung gibt. Angesichts der Tatsache, dass diese Formen der Selbstdarstellung für eine erfolgreiche Karriere unabdingbar und für so manche(n) harte und aufwendige Arbeit sind, kommt der Aufruf erfrischend daher. Zumal sich der Appell der Schauspielerin selbst nicht an die Regeln der Kunst hält, sondern vielmehr die – normalerweise entfernten – Versprecher, Ausrutscher und deplatzierten Gesten exponiert. Das Lachen darüber macht gewissermaßen den Weg frei.
Die Reden
Zu hören ist Spannendes, beispielsweise von Ruth Finckh über das 1780 entstandene Porträt der gelehrten Dichterin Philippine Gatterer, in dem die zur damaligen Zeit geltenden Grenzen für das weibliche Geschlecht im Gemälde zunächst überschritten, um im darauffolgenden Stich – welcher aufgrund seiner medialen Eigenschaften weitaus größere Verbreitung erlangte – sorgsam wieder zurückgeholt zu werden. Oder von Daniel Graepler über das Porträt von Karl Otfried Müller, das 1830 entstand und Müller mit den entsprechenden Anleihen und Requisiten kunstvoll als Archäologen inszeniert.
Wir erfahren vom Witz in einer Karikatur auf Carl Friedrich Gauß, der sich erst durch die ungemein schlaue wissenschaftliche Rekonstruktion und wortgewandte Lesung seines Autors Karsten Heck erschließt. Und schließlich liest Sonja Nökel – stellvertretend für Mario Schulze – seinen Essay über die Inszenierung des Windkanalingenieurs Carl Wieselsberger, der im Selbstversuch und Kampf gegen den Wind seine Professionalität und Männlichkeit unter Beweis stellt.
Resumee
Die Beiträge machen große Lust auf mehr und der im Wallstein Verlag erschienene Band ist aufs Wärmste zu empfehlen. Besonders aber hat der Abend dazu angeregt, das gängige Vortrags- und Präsentationsformat im akademischen Betrieb zu hinterfragen und vielleicht sogar zu verändern. Denn solch mutige Versuche mit offenem Ende müssen letztlich auch ein Stück Kontrolle sowohl über die Formen der Darstellung als auch über die Inhalte an andere Akteure abgegeben. Das in diesem Fall Inhalt und Form zusammenfielen, war nicht nur eine glückliche Fügung, sondern auch eine überaus gelungene Inszenierung.
Erfolg bedeutet, sich jeden Tag mit Freude und Leidenschaft für die Arbeit zu engagieren, Ziele zu erreichen und das zu tun, was wichtig ist. So beschreiben fünf erfolgreiche Frauen, deren Leben eng mit der Universitätsstadt Göttingen verknüpft ist, ihre berufliche Motivation.
Betritt man die Bernsteinausstellung, scheint es, als betrete man eine andere Welt. In schummrig-wohligem Licht wandelt man über dunkelbraunen Grund, während sich auf einem großen Banner an der Wand Säugetiere und Vögel im Dickicht von grünen Pflanzen und Bäumen tummeln.
Das zeigt die neue Ausstellung „Zeit│Spiegel. Kinder- und Jugendliteratur der Jahre 1925 bis 1945“, die am Mittwoch, 30. Oktober 2019, um 18 Uhr in der Göttinger Paulinerkirche eröffnet wird. Unsere Schülerpraktikantin Sophia Juwien hat sich vorab für Sie umgesehen und mit dem Kurator der Ausstellung, Hartmut Hombrecher, gesprochen.
Lieber Herr Hombrecher, was können Besucherinnen und Besucher in der neuen Ausstellung erwarten?
Kinderbücher prägen oft ein Leben lang. Schon als Kind, wenn die Fantasie und Kreativität noch sehr stark sind, orientieren sich Kinder gerne an Figuren aus ihren Büchern und übernehmen Verhaltensweisen oder Charakterzüge. Unsere Ausstellung zeigt, wie Kinder- und Jugendliteratur aus der späten Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus die damalige Generation beeinflusst hat und bis heute unser Denken und Handeln prägt. Wir bieten also eine Reise in eine Zeit voller Umbrüche.
Warum haben Sie sich für dieses Thema entschieden?
Wir besitzen eine wertvolle Sammlung von Sigrid Wehner. Sie sammelte rund 18.000 Kinder- und Jugendbücher der Jahre 1925 bis 1945. Diese zeigen das individuelle Portrait einer Kindheit vor und während des Zweiten Weltkrieges; sie geben Einblick in die Vorstellungen und Werte ihrer Generation. Das Besondere an der Ausstellung ist, dass wir viele der Bücher, die sonst nicht öffentlich zugänglich sind, nun erstmals in ihrem politischen und sozialen Kontext präsentieren.
Welchen Einfluss hatten Kinderbücher im Nationalsozialismus?
Kinder sind bekanntlich sehr neugierig und wissensdurstig, aber auch oftmals leicht zu beeinflussen. Gerade zur Zeit des Nationalsozialismus wurden diese Eigenschaften im frühen Alter der Kinder genutzt, um sie weltanschaulich zu beeinflussen. Antisemitische Werke wie Johanna Haarers „Mutter, erzähl von Adolf Hitler!“ oder Kriegspropaganda wie Hans Mefferts „Sturzkampfflieger schlagen Bresche“ sind nur zwei Beispiele von vielen manipulativen Kinderbüchern dieser Zeit. Heutzutage wären solche Themen und Schreibweisen für uns kaum denkbar und Bücher dieser Art würden uns surreal erscheinen. Werte und Eigenschaften wie eigenständiges Denken oder kritisches Hinterfragen werden mittlerweile viel stärker gefördert.
Können Sie das noch ein wenig ausführen?
Im Nationalsozialismus gab es eine sehr stark gleichgeschaltete Kinder- und Jugendpolitik. Ab 1933 prägte die massiv verschärfte Zensur die Literatur, sodass viele Bücher nicht mehr publiziert werden durften. Viele Autoren mussten ins Exil gehen und haben versucht, außerhalb Deutschlands weiter zu schreiben. Aber an der Zensur im Innenland kamen sie nicht vorbei. Dort war die Bandbreite groß an propagandistischen Werken, antisemitistischen Hetzschriften für Kinder, Führerbüchern und noch vielem mehr.
In der Ausstellung zeigen Sie auch Bücher, die speziell für Mädchen oder für Jungen geschrieben wurden. Worin unterschied sich denn die Literatur?
Vor allem die Themen, aber auch die Gestaltung der Bücher machen die vorhandene Zweiteilung deutlich. Es gab häufig idealisierte Selbstformen, die in Büchern präsentiert wurden: Bei den Mädchen war dies die Rolle der Ehefrau und Mutter. Für die Jungen gab es häufig Rollenbilder, die soldatische Männlichkeit repräsentierten. Jedoch haben diese Formen der zweigeteilten Literatur ihre Anfänge schon im 18. Jahrhundert gefunden. Unsere Ausstellung steht damit nicht am Anfang der Entwicklung, aber auch noch nicht am Ende. Auch heute hat man noch Jungen- und Mädchenbücher, die unterschiedliche Rollenvorstellungen vermitteln.
Sollten wir nicht genau deswegen heutzutage darauf achten, mehr Wert auf Gleichberechtigung und Gerechtigkeit zu legen, gerade was die „typische Rolle von Mann und Frau“ betrifft? Anregungen dazu gibt die Ausstellung „Zeit│Spiegel“ auf alle Fälle. Aber auch in ihrer Art und Weise unterscheidet sie sich von anderen Ausstellungen.
Wir präsentieren nicht nur Bücher zum Anschauen. Wir wollen die Besucherinnen und Besucher auch zum Nachdenken anregen, zur Selbstreflexion. Sie sollen nicht nur von außen auf die Vitrinen schauen, sondern auch zurückblicken und sich selbst als Teil der Ausstellung und der gezeigten Debatten betrachten. Aus diesem Grund haben wir zum Beispiel Spiegel eingebaut. Sie zeigen, dass Prägungen generationenübergreifend noch bis heute andauern und verringern die Distanz zum historischen Objekt.
Lieber Herr Hombrecher, vielen Dank für das Gespräch!
Ein kleiner Rückblick in die Geschichte unserer Zeit gewünscht? Nachvollziehen, welche Werte, Ideen und Überzeugungen man damals hatte, von sich selbst sowie der Gesellschaft? Neugierig geworden? Dann sollten Sie sich diese Ausstellung unter keinen Umständen entgehen lassen. Vielleicht wird der eine oder andere der älteren Generation sogar Werke wiedererkennen? Keine Angst, sie ist nicht nur für alte Hasen oder Wissenschaftler gemacht, sondern auch für junge interessierte Menschen. Jeder kann einen Bezug zu dieser einflussreichen Zeit herstellen, sich selbst reflektieren und am Ende verstehen, wie die damalige Kindheit aussah und wodurch sie geprägt wurde.
Die Ausstellung ist noch bis zum 2. Februar 2020 in der Paulinerkirche am Papendiek 14 zu sehen. Geöffnet ist sie mittwochs bis freitags von 12 bis 18 Uhr und samstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr. Weitere Informationen gibt es unter www.uni-goettingen.de/zeitspiegel