“Ein menschlicher Embryo hat so viel Anmut, dass der Unvoreingenommene ihn staunend bewundern muss.” Erich Blechschmidt im Vorwort zu „Vom Ei zum Embryo“, 1968
Tag: Sammlung Blechschmidt
Restaurierung im Embryonalstadium
Restaurierungsprofis bringt man gemeinhin mit der akribischen Arbeit an beschädigten Kulturgütern wie Gemälden in Verbindung. Aber auch in einem anatomischen Institut können sich Objekte verstecken, die für Restauratorinnen und Restauratoren von großem Interesse sind. Einige befinden sich mit der „Humanembryologische Dokumentationssammlung Blechschmidt“ in der Göttinger Anatomie. Es handelt sich um weltweit einmalige, großformatige Kunststoffmodelle der Anatomie ganzer Embryonen und damit aus den ersten beiden Entwicklungsmonaten.
Aus Plastik, aber kein Wegwerf-Artikel
Die über 60 beeindruckenden Modelle wurden in monatelanger Handarbeit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts während der 1950er und 1960er Jahre gebaut. Dabei kam ein nur in Göttingen angewandtes Modellierungsverfahren auf Basis der ersten kommerziell erhältlichen Kunststoffe zum Einsatz. Die Modelle sollen noch lange Zeit für Lehre und Vermittlung zur Verfügung stehen, aber es gibt bisher kaum Erfahrungen mit Kunststoffobjekten so hohen Alters. Daher erschien mir, der ich die Geschichte der Sammlung untersuche, ein kleines Forschungsprojekt innerhalb der Restaurierungswissenschaften dazu sinnvoll.
Glücklicherweise ergibt die Kombination aus altem Kunststoff, einer Armierung aus Metalldrähten und der aufwändigen Bemalung einen ganz besonderen Materialmix. Der ist nicht nur für Medizinstudierende, sondern auch angehende Restauratorinnen und Restauratoren ausgesprochen spannend. Die Werkstattleiterin Mag. Ute Lorenz von der Fachrichtung Konservierung und Restaurierung der FH Erfurt war deshalb sofort interessiert, als ich von den Modellen erzählte. Ich habe zuvor schon mit ihr und der Fachrichtung zusammengearbeitet und dies immer als sehr befruchtend empfunden.
Was ist so toll am Modell?
Nun wird sich voraussichtlich ab Juli 2018 Till Krieg im Rahmen seiner Masterarbeit an der FH Erfurt für einige Monate intensiv damit beschäftigen. Er besuchte wie auch die Studiengangsleiterin Prof. Dr. Britta Schmutzler, verantwortlich für archäologisches Kulturgut und kunsthandwerkliche Objekte, und Ute Lorenz vor einigen Monaten für einen ersten Einblick die Sammlung. Neben einer Materialanalyse wird bei dem Projekt Kriegs die Frage der Bestandssicherung im Vordergrund stehen. Britta Schmutzler erklärte mir, dass für die Erfurter Studierenden die Beschäftigung mit universitären Sammlungen eine hervorragende Vorbereitung auf die spätere berufliche Tätigkeit ist. Bezogen auf das Material sei der Unterschied zwischen wissenschaftlichen Objekten wie diesen Modellen und modernen Kunstwerken nicht so groß wie man denkt. Für Ute Lorenz bieten Universitäten und ihre Sammlungen Objekte, die immer eine besondere Herausforderung für die Studierenden darstellen. Schon bei unserer kurzen Begehung hat die Gruppe aus Erfurt noch ein Thema für eine Bachelorarbeit in Nebenraum der anatomischen Lehrsammlung entdeckt.
Till Krieg ist von seinem zukünftigen Projekt begeistert. Für ihn ist die Arbeit an diesen komplexen Materialgefügen der Modelle eine tolle Herausforderung. Er freut sich darauf neue spannende Erkenntnisse zu sammeln, um eine Erhaltung und Nutzung der einzigartigen Stücke weiterhin gewährleisten zu können.
Die Zukunft der Wissensobjekte
Aus meiner Perspektive als Sammlungsforscher ist das Projekt ein gutes Beispiel für den interdisziplinären Austausch über Sammlungen und ihre Objekte, wie er die Arbeit im Forum Wissen prägen wird. Vermutlich werden die embryologischen Modelle aufgrund ihrer Dimensionen nicht in die dortige Dauerausstellung passen. Aber alle öffentlichen und teilöffentlichen Sammlungen der Universität Göttingen profitieren von der Aufmerksamkeit, die das Forum Wissen auf sie lenken wird. Die Begutachtung und Bestandssicherung einer Sammlung wie dieser im Untergeschoss der Anatomie ist eine zentrale Voraussetzung dafür, die einmaligen Objekte auch in Zukunft der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können.
Mit der „Humanembryologischen Dokumentationssammlung Blechschmidt“ verfügt das Zentrum Anatomie der Göttinger Universität über eine außergewöhnliche Sammlung. Zum einen sind Sammlungen von Schnittserien menschlicher Embryonen heute sehr selten und weltweit existiert weniger als ein Dutzend. Zum zweiten sind beeindruckende, fast einen Meter hohe Kunststoffmodelle zur menschlichen Entwicklung auf Grundlage der Präparate ein wesentlicher Teil der Sammlung. Diese waren lange Zeit eine Forschungsgrundlage der Göttinger Anatomie und werden bis heute in der Ausbildung von Mediziner*innen eingesetzt.
Eine fragwürdige Vergangenheit
Leider ist die Sammlung aber nicht nur besonders, sondern auch besonders umstritten. Der frühere Institutsleiter und Sammler Erich Blechschmidt (1904-1992) schuf die Sammlung in seiner Göttinger Zeit von 1942 bis in die 1970er Jahre. Ihm wird seit mindestens 30 Jahren vorgeworfen, er hätte zumindest einige der Präparate aus nationalsozialistischen Verbrechen gewonnen und diese Herkunft nach Ende des Krieges gezielt verschleiert.
Die nun untersucht wird
Zum 1. August 2017 startete ein Forschungsprojekt zur Provenienz, also Herkunft, der Sammlung , das diesen Vorwürfen nachgeht und das ich durchführe. Vor diesem Projekt hatte ich mich als Wissenschaftshistoriker vor allem die Geschichte von Lehrmitteln der Biologie an Schule und Hochschule, ihrer Entwicklung und Nutzung erforscht. Als ich die Stelle antrat, interessierten mich an der Sammlung vor allem die großen Modelle.
Weshalb der Blick in die Vergangenheit wichtig ist
Mit Provenienzforschung zu Sammlungsobjekten, zumal mikroskopisch kleinen, hatte ich mich bis dahin nur am Rand beschäftigt. Klar war mir aber, welchen Zielen eine solche Forschung dient. Über die Aufklärung von Sammlungsgeschichte, Erwerb und Verwendung der Sammlungsobjekte entsteht eine Grundlage für die ethische Beurteilung der Sammlung und deren Einsatz in Forschung und Lehre, sofern eine Benutzung nach der Herkunftsklärung überhaupt noch ethisch vertretbar ist. (vgl. dazu auch den einführenden Beitrag von Christian Vogel).
Die Sammlung wächst durch die historische Forschung
Für meine Forschung steht mir eine große Vielfalt von Quellen zur Verfügung, die ich teilweise erst im Laufe meiner Nachforschungen im Zentrum Anatomie in entlegenen Schränken fand. Es ist wirklich erstaunlich, wie viel zwischenzeitlich bedeutungslos gewordenes Material sich in manchen Institutionen erhalten hat und ‚wiederentdeckt‘ werden kann. So existiert ein umfangreicher Briefwechsel zur Einlieferung von Embryonen, woran in den 1940er bis 1960er Jahren mehr als 200 Personen beteiligt waren. Weitere Quellen sind eine Sammlungskartei mit Präparationsdaten und Abbildungen der Präparate, ein Schuber mit handschriftlichen Protokollen zu mehreren Hundert Präparationen und eine riesige Sammlung fotografischer Platten, die Präparate und Modelle zeigen.
Mit der Sammlung wachsen die Aufgaben
Derzeit bin ich dabei, dieses Material auszuwerten sowie es miteinander und mit anderen Quellen und Aussagen von Zeitzeugen abzugleichen. Für einige der gefundenen Materialien habe ich sogar eigene kleine Projekte beantragt; sie werden in den nächsten Monaten von Hilfskräften digital erfasst. Ich hoffe, am Ende die Geschichte vieler der über 400 Präparate detailliert nachvollziehen zu können.
Unprofessionelle Dokumentation
Erste Ergebnisse meiner Forschung habe ich am 16.03.2018 im Rahmen eines öffentlichen Symposiums zur Sammlung im Zentrum Anatomie vorgestellt (Bericht im Göttinger Tageblatt und NDR-Hörfunk).Schon jetzt ist deutlich, dass Blechschmidt nur wenige Informationen zu den Präparaten in seiner Sammlung notierte oder überhaupt bei den liefernden Medizinern anfragte. Mit den zahlreich vorhandenen Archivalien werde ich für viele Präparate eine Herkunft aus Menschenrechtsverletzungen ausschließen können. Es wird aber ein Teil mit unklarem Ursprung übrig bleiben, der möglicherweise aus einem Unrechtskontext wie etwa Zwangsabtreibungen im Nationalsozialismus stammt. Meine Aufgabe für die übrige Projektlaufzeit ist es daher, die Dokumentation der Sammlung zu verbessern und damit die Zahl fragwürdiger Präparate zu reduzieren.